Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutflüstern: Novelle (German Edition)

Blutflüstern: Novelle (German Edition)

Titel: Blutflüstern: Novelle (German Edition)
Autoren: Kim Harrison
Vom Netzwerk:
ausatmete, schien der nebelartige Dampf vor meinem Mund meine Stimmung aufzunehmen, trüb und trostlos. Ich legte den Umschlag zur Seite und öffnete die Schachtel. Die Tränen flossen heftiger, als ich sah, was darin war: Eingepackt in schwarzes Seidenpapier lag dort die Uhr meines Dads.
    Elend schaute ich zum stillen Haus hinüber. Sie wusste, welchen Zauber ich gewirkt hatte. Sie wusste alles; warum sonst sollte sie mir die Uhr schenken?
    Ich umklammerte Dads Taschenuhr, starrte ins Feuer und vermisste ihn so sehr, dass mein Herz wehtat. Vielleicht wäre jetzt alles anders, wenn er aufgetaucht wäre. Ich war glücklich, dass er in Frieden ruhte und der Zauber bei ihm nicht funktioniert hatte, aber verdammt noch mal, in meiner Brust schien sich ein klaffendes Loch aufgetan zu haben.
    Plötzlich war mir warm, und überrascht zog ich die Nase hoch und registrierte ein leises Geräusch am Haus. Ein Paar Hände umklammerte den Zaun, und während ich mir das Gesicht abwischte, sprang ein kleiner Mann im langen Mantel darüber. Pierce.
    »Oh, hi«, sagte ich und wischte mir noch einmal über
das Gesicht, in der Hoffnung dass er nicht merken würde, dass ich geweint hatte. »Ich dachte, du wärst weg.« Ich trocknete meine Hand an der Decke ab, dann faltete ich die Hände im Schoß, um gleichzeitig Dads Uhr und meinen Kummer zu verstecken.
    Pierce schaute zum Haus, als er sich mir näherte. Seine Stiefel hinterließen Spuren im Schnee. »Nachdem ich Eure Mutter im Haus der Brut gesehen hatte, war ich gesonnen, die Mutter der Porzellankiste walten zu lassen.«
    Ein leises Lächeln erschien fast gegen meinen Willen auf meinen Lippen. »Sie macht dir Angst?«
    »Wie eine Schlange einem Pferd«, erklärte er und schüttelte sich dramatisch.
    Wieder warf er einen Blick aufs Haus, dann setzte er sich auf Robbies Stuhl. Ich sagte nichts, bemerkte aber den Abstand, den er einhielt.
    »Ich konnte Euer Haus nicht finden«, sagte er, während er ins Feuer starrte, statt mich anzusehen. »Die Fahrer der öffentlichen Kutschen … ähm … der Busse sind nicht anfällig für Mitleid, und es hat mich eine Weile gekostet, dem gelben Buch auf den Grund zu gehen.«
    Ich schnüffelte, aber mit ihm an meiner Seite fühlte ich mich gleich besser. »Gelbe Seiten.«
    Er nickte, den Blick auf Robbies immer noch brennenden Marshmallow gerichtet. »Ja, die gelben Seiten. Ein farbiger Mann hatte Mitleid mit mir und hat mich in Euer Viertel gefahren.«
    Ich drehte mich entsetzt zu ihm um, aber dann fiel mir ein, dass er seit über hundert Jahren tot war. »Es ist jetzt höflich, sie ›schwarz‹ zu nennen. Oder Afro-Amerikaner«, korrigierte ich ihn, und er nickte.
    »Sie sind alle freie Männer?«
    »Es gab einen großen Kampf darum«, erklärte ich, und er nickte, die Augen nachdenklich zusammengekniffen.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und schließlich drehte Pierce sich zu mir um. »Warum seid Ihr so melancholisch, Miss Rachel? Es ist uns gelungen. Meine Seele ist gerächt und das Mädchen in Sicherheit. Ich bin davon überzeugt, dass ich meinen Lohn erhalten werde, wenn die Sonne aufgeht.« In seine Augen trat ein nervöser Ausdruck. »Sei er nun gut oder schlecht.«
    »Er wird gut«, sagte ich schnell und umklammerte die Uhr, als könnte ich ein wenig Glück herauspressen. »Ich freue mich für dich, und ich weiß, dass du auf der guten Seite landen wirst. Versprochen!«
    »Ihr wirkt nicht erfreut«, murmelte er, und ich kleisterte mir schnell ein Lächeln aufs Gesicht.
    »Ich bin es aber. Wirklich«, sagte ich. »Es ist nur … Es ist nur so, dass ich nun ausprobiert habe, wer ich sein will, und ich …« Meine Kehle war wie zugeschnürt, als wäre es weniger real, wenn ich es nicht aussprach. »Ich kann es nicht«, flüsterte ich. Ich kämpfte mit den Tränen, während ich ins Feuer starrte und darum rang, meine Atmung gleichmäßig zu halten.
    »Doch, Ihr könnt …«, widersprach Pierce. Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass meine Haare flogen.
    »Nein, kann ich nicht. Ich bin bewusstlos geworden. Wärst du nicht dagewesen, wäre ich einfach umgefallen und er wäre entkommen und dann wäre alles umsonst gewesen.«
    »Oh, Rachel …« Pierce glitt auf den Stuhl meiner Mutter und legte einen Arm um mich. Ich gab es auf, stark zu
spielen, drehte mich und umarmte ihn richtig, sodass ich mein Gesicht in seinem Mantel vergraben konnte. Langsam atmete ich ein und roch Kohlenstaub und Schuhpolitur. Er hatte einen echten Geruch.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher