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Blutflucht Evolution

Blutflucht Evolution

Titel: Blutflucht Evolution
Autoren: Loreen Ravenscroft
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der Hand hielt. Er symbolisierte meinen persönlichen Alptraum für die nächsten Schultage, -wochen und vielleicht sogar Jahre. Normalität in Form eines eigenen Spinds.
    Bei dem Gedanken an die vor mir liegende Zeit ballten sich meine Hände unwillkürlich fester um das gezackte Metall. Die Entspannungsübungen, die ich in den vergangenen sechs Jahren hatte lernen müssen, halfen nur geringfügig. Wahrscheinlich war ich schon außer Übung, weil ich heute nicht – wie sonst jeden Morgen um sieben Uhr – zur Meditation gezwungen worden war. Auf Kommando ins Nirwana, ein Ding der Unmöglichkeit. Trotzdem konzentrierte ich mich. Einatmen, halten, halten, halten, und … ausatmen, warten, warten, warten und … einatmen … Ich bemühte mich darum, die Sekunden zu zählen, während ich den überfüllten Gang entlang schlenderte. Dabei wich ich rennenden Schülern aus, ignorierte das farbenfrohe Kaleidoskop der ungewohnten und freien Kleiderwahl, und wünschte mir woanders zu sein. Irgendwo anders.
    Natürlich half es nichts. Weder die Atemübungen noch der Wunsch. Das mochte am schlechten Karma dieses hellgrau gestrichenen Schulflures liegen, oder an meinem eigenen. Aber aus irgendeinem Grund wirkte nicht, was sich jahrelang bewährt hatte. Meine schlechten Charaktereigenschaften regten sich und weckten noch schlechtere Gedanken. Wahrscheinlich spielte die Tatsache, dass ich auch nach zehn Minuten intensiven Suchens meinen Spind noch nicht gefunden hatte, dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Aber auf gar keinen Fall lag es daran, dass mich alle die hektischen Schüler anstarrten, als sei ich stigmatisiert. Ihre Blicke bohrten sich in meinen Rücken, fixierten und prüften mich, schätzen mich ein und bildeten sich ein Urteil. Aber vor allem führten sie mich in Versuchung. Vielleicht sollte ich mich ganz einfach wild schreiend im Kreis drehen, um herauszufinden, ob in irgendeiner Ecke schon ein Exorzist oder die Männer mit den weißen Kitteln lauerten – bei mir konnte man schließlich nie wissen, oder?
    Ich seufzte und kämpfte diese Fantasie nieder. Sollten die Kinder doch starren … darüber war ich erhaben … irgendwie … und strenggenommen hatte ich ihre Blicke ja verdient. Ich war stigmatisiert, auch wenn man es mir beim besten Willen nicht ansehen und sie es nicht wissen konnten. Dessen war ich mir sehr sicher. Ziemlich jedenfalls. Zumindest wenn nicht plötzlich auf meiner Stirn »War in den letzten sechs Jahren auf einem Internat für Schwererziehbare« stand. Beinahe hätte ich es überprüft. Schließlich gab es ansonsten nichts, weshalb ich seltsame Blicke ernten konnte. Optisch gab es an mir nichts zu beanstanden – zumindest solange die Brandnarben an meinem linken Arm durch Stoff bedeckt waren. Ich war groß, schlank und hatte rabenschwarze, lange Haare. Vermutlich kam die allgemeine Aufmerksamkeit von dem »ist neu« und »ist groß«. Es war nicht leuchtturmgroß, aber immer noch groß genug, um aufzufallen und die meisten Jungs abzuschrecken. Jetzt mal ehrlich … Wer möchte schon eine Freundin, bei der er eine Klapptrittleiter benötigt, um sie zu küssen? Ich fing meine Finger im letzten Moment ein, da sie sich – wie immer, wenn ich nervös war – selbständig machen wollten und versucht hatten, sich in meine Haare zu verirren …
vielleicht liegt es ja doch an ihnen
, dachte ich. Entgegen meines Vorsatzes fuhr ich mir nun doch durch die lange Pracht, die ich aus Protest offen trug. Welches Teeniemädchen träumte schon von langen, blauschwarzen Haaren? Jedes wollte doch blond sein, oder? Gerade deswegen trug ich sie trotzdem stolz offen. Das ergab natürlich nur einen Sinn, wenn man generell ein sehr wütender und trotziger Mensch war. Zumindest behauptete Tante Meg das. Wahrscheinlich waren meine Haare auch nur aus Protest schwarz? Eine Vermutung, die genauso wahrscheinlich war, wie die Vererbungslehre. Der entsprechend hätte ich nämlich mit einer 85% Wahrscheinlichkeit blond werden müssen, genau wie meine Mutter und eben Tante Meg. Stattdessen war ich nach der väterlichen Seite gekommen und hob mich angenehm von Meg, ihrem Mann Klaus und seinen beiden Jungs ab, die er mit irgendeiner ersten Ehefrau gezeugt hatte.
    Apropos Jungs … ich beglückwünschte mich im Stillen, weil ich es geschafft hatte, David schon seit geschlagenen fünfzehn Minuten aus dem Weg zu gehen. Obwohl wir jetzt auf derselben Schule waren, empfand ich die Tatsache des Nicht-Begegnens als guten Anfang, der
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