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Blut - Skeleton Crew

Blut - Skeleton Crew

Titel: Blut - Skeleton Crew
Autoren: Stephen King
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Schneegestöber  – und dann kam aus der grauen Kehle eines Abends, durch die der Wind mit der Stimme eines Teufels in einem Schneetunnel heulte, ihr Mann auf sie zu. Zuerst sah sie nur tanzende Farben im Schnee: Rot, Dunkelgrün, Hellgrün; dann verdichteten sich diese Farben zu einer Flanelljacke mit hochgestelltem Kragen, Flanellhosen und grünen Stiefeln. Mit einer fast absurd ritterlichen Geste hielt er ihr seine Mütze hin, und sein Gesicht war Bills Gesicht, wie es ausgesehen hatte, bevor es vom Krebs gezeichnet wurde (war das alles, wovor sie Angst gehabt hatte? Dass ein ausgemergelter Schatten ihres Mannes sie erwarten würde, eine Gestalt wie aus dem Konzentrationslager, mit überstraffer, durchscheinender Haut über den Wangenknochen und tief in die Höhlen eingefallenen Augen?), und eine Woge der Erleichterung erfasste sie.
    »Bill? Bist du es wirklich?«
    »Klar.«
    »Bill!«, sagte sie noch einmal glücklich und machte einen Schritt auf ihn zu. Ihre Beine ließen sie im Stich, und sie dachte, dass sie stürzen würde, mitten durch ihn hindurch  – schließlich war er ja ein Geist –, aber er fing sie auf mit Armen, die so stark und kraftvoll waren wie einst, als er sie über die Schwelle des Hauses getragen hatte, in dem sie zuletzt nur noch mit Alden gelebt hatte. Er stützte sie, und einen Augenblick später spürte sie, wie die Mütze ihr fest auf den Kopf gedrückt wurde.
    »Bist du es wirklich?«, fragte sie wieder und blickte in sein Gesicht empor, betrachtete die Krähenfüße um seine Augen, die sich noch nicht tief in seine Haut eingegraben hatten, betrachtete den Schnee auf den Schultern seiner Jacke, betrachtete sein dichtes braunes Haar.
    »Ich bin es«, sagte er. »Wir alle sind hier.«
    Er vollführte zusammen mit ihr eine halbe Drehung, und sie sah die anderen aus dem Schnee auftauchen, den der Wind in der sich verdichtenden Dunkelheit über die Meerenge fegte. Ein Schrei – halb vor Freude, halb vor Angst – kam aus ihrem Mund, als sie Madeleine Stoddard, Hatties Mutter, in einem blauen Kleid erblickte, das der Wind glockenförmig bauschte, und ihre Hand hielt Hatties Vater, kein vermodertes Skelett irgendwo auf dem Meeresgrund mit der »Dancer« sondern jung und unversehrt. Und dort, hinter den beiden …
    »Annabelle!«, rief sie. »Annabelle Frane, bist du’s?«
    Es war Annabelle; sogar in diesem Schneegestöber erkannte Stella das gelbe Kleid, das Annabelle bei Stellas Hochzeit getragen hatte, und als sie an Bills Arm auf ihre tote Freundin zutaumelte, glaubte sie, Rosenduft wahrzunehmen.
    »Annabelle!«
    »Wir sind jetzt fast da, Liebes«, sagte Annabelle und nahm ihren anderen Arm. Das gelbe Kleid, das seinerzeit als »gewagt« bezeichnet worden war (das aber zum Glück für Annabelle und zur allgemeinen Erleichterung doch kein »Skandal« gewesen war), ließ ihre Schultern frei, aber Annabelle schien die Kälte nicht zu spüren. Ihr langes weiches kastanienbraunes Haar wehte im Wind. »Nur noch ein kleines Stückchen.«
    Sie bewegten sich wieder vorwärts. Andere Gestalten tauchten aus schneeiger Nacht auf (denn es war inzwischen Nacht geworden). Stella erkannte viele von ihnen, aber nicht alle. Tommy Frane hatte sich zu Annabelle gesellt; Big George Havelock, der in den Wäldern eines so grässlichen Todes gestorben war, ging hinter Bill; da kam der Mann, der fast zwanzig Jahre lang Leuchtturmwärter von Raccoon Head gewesen war und der zu den Scribbage-Turnieren, die Freddy Dinsmore jeden Februar veranstaltete, immer auf die Insel zu kommen pflegte – sein Name lag Stella auf der Zunge, fiel ihr aber nicht ein. Und da war auch Freddy selbst! Etwas seitlich von Freddy ging ganz für sich, mit verwirrtem Gesichtsausdruck, Russell Bowie.
    »Sieh mal, Stella«, sagte Bill, und sie sah etwas Schwarzes aus der Dunkelheit emporragen wie die zerschellten Buge vieler Schiffe. Es waren aber keine Schiffe, es waren zerklüftete Felsen. Sie hatten das Festland erreicht. Sie hatten die Meerenge überquert.
    Sie hörte Stimmen, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich sprachen:
    Gib mir deine Hand, Stella …
    (liebst)
    Nimm meine Hand, Bill …
    (oh, liebst)
    Annabelle … Freddy … Russell … John … Ettie … Frank … gebt mir die Hand … gebt mir die Hand … die Hand …
    (liebst du)
    »Willst du mir deine Hand geben, Stella?«, fragte eine neue Stimme.
    Sie schaute sich um, und da war Bull Symes. Er lächelte ihr freundlich zu, und doch spürte sie, wie
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