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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau
Autoren: Haruki Murakami
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es voller. Alle möglichen Geräusche und Stimmen vermengten sich und erfüllten den Raum wie Rauch. Noch einmal kehrte ich in das Reich meiner Erinnerungen zurück und zu dem kleinen goldenen Kugelschreiber in der Brusttasche des Mädchens.
    … Ach ja, sie hat damit etwas auf eine Papierserviette gezeichnet.
    Ein Bild. Die Serviette war zu weich, und die Spitze des Kugelschreibers blieb darin hängen. Dennoch gelang es ihr, einen Hügel zu zeichnen. Und ein kleines Haus, das auf dem Hügel stand. In dem Haus schlief eine Frau. Um das Haus herum wuchsen blinde Weiden. Die blinden Weiden hatten die Frau einschlafen lassen.
    »Was soll das denn sein, eine blinde Weide?«, fragte mein Freund.
    »So einen Baum gibt es.«
    »Noch nie gehört.«
    »Weil ich ihn geschaffen habe.« Sie lächelte. »Blinde Weiden haben sehr viel Blütenstaub, und wenn kleine Fliegen, an denen er haftet, einer Frau ins Ohr kriechen, fällt sie in tiefen Schlaf.«
    Sie nahm eine neue Papierserviette und zeichnete eine blinde Weide. Sie hatte die Größe einer Azalee. Sie blühte, und ihre Blüten waren von dichten grünen Blättern umgeben, die einem Bündel von Eidechsenschwänzen glichen. Die blinde Weide sah überhaupt nicht wie eine Weide aus.
    »Hast du mal eine Zigarette?«, fragte mich mein Freund. Ich schob ihm ein feuchtes Päckchen Short Hopes und Streichhölzer über den Tisch.
    »Die blinde Weide ist über der Erde klein, hat aber unglaublich tiefe Wurzeln«, erklärte sie. »Von einem gewissen Alter an hört sie auf, in die Höhe zu wachsen, und stößt immer tiefer in den Boden vor, als würde die Dunkelheit sie nähren.«
    »Und die Fliegen mit dem Blütenstaub krabbeln Frauen in die Ohren und lassen sie in Schlaf fallen«, sagte mein Freund, während er sich abmühte, seine Zigarette mit den feuchten Streichhölzern anzuzünden. »Aber was machen die Fliegen dann?«
    »Sie fressen natürlich das Fleisch der Frau von innen auf«, sagte sie.
    »Schmatz, schmatz«, machte mein Freund.

    Jetzt weiß ich es wieder: In diesem Sommer schrieb sie auch ein langes Gedicht über die blinde Weide und erklärte uns jede Zeile davon. Es war ihre einzige Hausaufgabe in jenen Sommerferien. Aus einem Traum, den sie eines Nachts hatte, machte sie eine Geschichte und schrieb dann eine Woche im Bett dieses lange Gedicht. Mein Freund wollte es lesen, aber sie sagte, einiges darin sei noch ungeglättet; stattdessen erläuterte sie uns das Gedicht mit Bildern.
    Um die vom Blütenstaub in Schlaf versetzte Frau zu retten, kam ein junger Mann den Hügel hinauf.
    »Das bin bestimmt ich«, sagte mein Freund.
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das bist nicht du.«
    »Bist du dir da sicher?«
    »Ganz sicher«, sagte sie mit beinahe ernster Miene. »Keine Ahnung warum, aber so ist es nun mal. Bist du jetzt beleidigt?«
    »Und wie«, sagte mein Freund und runzelte halb im Scherz die Stirn.
    Langsam schob sich der junge Mann durch das Dickicht von blinden Weiden den Hügel hinauf. Er war der Erste, der den Hügel bestieg, seit die blinden Weiden alles überwuchert hatten. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, mit einer Hand die Fliegenschwärme verscheuchend, stapfte er voran. Um das schlafende Mädchen zu sehen. Um es aus seinem langen, tiefen Schlaf zu erwecken.
    »Aber als er auf dem Gipfel des Hügels ankam, war das Mädchen innerlich bereits von den Fliegen zerfressen, stimmt’s?«, sagte mein Freund.
    »In gewissem Sinne ja«, antwortete sie.
    » In gewissem Sinne von Fliegen zerfressen zu werden, ist in gewissem Sinne eine ziemlich traurige Geschichte, oder?«, sagte mein Freund.
    »Ja, ich glaub schon«, sagte sie nach einigem Nachdenken. »Was meinst du?«, fragte sie mich.
    »Klingt für mich wie eine traurige Geschichte«, sagte ich.

    Als mein Cousin herauskam, war es zwanzig nach zwölf. Sein Blick war irgendwie verschleiert, und er hatte ein Tütchen mit Medikamenten in der Hand. Nachdem er am Cafeteria-Eingang aufgetaucht war, brauchte er eine Weile, bis er mich entdeckt hatte und zu mir vorgestoßen war. Er ging linkisch, als habe er Mühe, die Balance zu halten. Als er sich mir gegenübersetzte, holte er tief Luft, als wäre er zu beschäftigt gewesen, um ans Atmen zu denken.
    »Wie war’s?«, fragte ich ihn.
    »Na ja«, sagte er. Ich wartete darauf, dass er mehr sagte, aber das tat er nicht.
    »Hast du Hunger?«, fragte ich.
    Er nickte.
    »Sollen wir hier was essen? Oder mit dem Bus in die Stadt fahren und dort essen?«
    Unsicher sah er sich
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