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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau
Autoren: Haruki Murakami
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erstaunlich, wie sehr diese Leute einander glichen – wie eine Schublade voller Muster für irgendetwas, eines ordentlich neben dem anderen. Das Sonderbare aber war, dass an dieser Strecke gar kein Wanderweg lag. Wo in aller Welt wollten sie nur hin? An meine Schlaufe geklammert, dachte ich darüber nach, kam aber auf keine plausible Erklärung.

    »Ob’s dieses Mal wohl weh tut, die Behandlung?«, fragte mein Cousin.
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich weiß nichts Genaueres darüber.«
    »Warst du schon mal bei einem Ohrenarzt?«
    Ich schüttelte den Kopf. Tatsächlich, ich war noch nie im Leben bei einem Ohrenarzt gewesen.
    »Hat es denn bisher wehgetan?«, fragte ich.
    »Nicht besonders«, antwortete mein Cousin trübsinnig. » Ganz schmerzlos war’s natürlich auch nicht; manchmal hat’s schon ein bisschen wehgetan, aber nicht so arg.«
    »Dann wird es jetzt doch bestimmt wieder so, oder? Deine Mutter hat gesagt, sie machen nichts anderes als sonst.«
    »Ja, aber wenn sie das Gleiche machen wie sonst, hilft es doch bestimmt wieder nicht.«
    »Na ja, wer weiß. Manchmal passiert auch etwas Unerwartetes.«
    »Wie wenn man einen Korken zieht?«, sagte mein Cousin. Ich sah rasch zu ihm hin, aber es war keine Spur von Sarkasmus in seinem Gesicht zu entdecken.
    »Wenn dich ein neuer Arzt behandelt, fühlt es sich anders an, und wenn man nur das Vorgehen ein wenig ändert, ist die Wirkung manchmal enorm. Ich würde nicht so leicht aufgeben.«
    »Ich gebe ja gar nicht auf«, sagte mein Cousin.
    »Aber allmählich reicht’s dir, oder?«
    »Schon«, sagte mein Cousin und seufzte. »Das Schlimmste ist die Angst. Die Schmerzen, die ich mir vorstelle, sind schlimmer als die wirklichen Schmerzen selbst. Verstehst du das?«
    »Ich glaub’ schon.«

    Im Frühling jenes Jahres passierte eine Menge. In der kleinen Werbeagentur in Tokyo, bei der ich seit zwei Jahren beschäftigt gewesen war, kam es zu einer unerfreulichen Situation, und ich kündigte. Um diese Zeit trennte ich mich auch von der Freundin, mit der ich seit der Uni zusammen gewesen war. Im Monat darauf starb meine Großmutter an Darmkrebs, und ich fuhr zu ihrer Beerdigung in meinen Heimatort. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, und ich hatte nur eine kleine Tasche dabei. Mein Zimmer zu Hause war noch so, wie ich es verlassen hatte. Im Regal standen meine Bücher, das Bett, in dem ich geschlafen hatte, war noch da, mein Schreibtisch, die Platten, die ich gehört hatte; doch alles im Zimmer war verdorrt, hatte die Farben und den Geruch von früher verloren. Nur die Zeit war stehen geblieben.
    Ich hatte vor, mir nach der Beerdigung noch zwei, drei freie Tage zu gönnen und dann nach Tokyo zurückzufahren, um mich nach einer neuen Stelle umzuschauen. Außerdem wollte ich umziehen; ich brauchte eine andere Umgebung. Aber die Tage vergingen, und ich kriegte den Hintern nicht hoch. Genauer gesagt, selbst wenn ich mich hätte aufraffen wollen, hätte ich es nicht geschafft. Ich igelte mich in meinem Zimmer ein, hörte alte Platten, las meine alten Bücher und jätete ab und zu im Garten Unkraut. Ich traf mich mit niemandem und sprach mit keinem, von meiner Familie abgesehen.
    Eines Tages kam meine Tante vorbei und fragte, ob ich nicht meinen Cousin in die neue Klinik begleiten könnte. Eigentlich habe sie ihn selbst hinbringen wollen, sagte sie, aber sie müsse an dem Tag etwas Wichtiges erledigen. Die Klinik lag in der Nähe meiner alten Schule, ich kannte den Weg, und da ich sonst nichts zu tun hatte, konnte ich schlecht ablehnen. Meine Tante gab mir einen Umschlag mit Geld und sagte, ich solle anschließend mit meinem Cousin essen gehen.
    Der Wechsel an eine andere Klinik war vorgesehen, weil die Behandlung in der bisherigen so gut wie keine Besserung bewirkt hatte. Die Abstände zwischen den Phasen, in denen das Gehör meines Cousins aussetzte, schienen sich sogar verkürzt zu haben. Als meine Tante dem behandelnden Arzt dies vorgehalten hatte, hatte er angedeutet, die Probleme meines Cousins hingen mehr mit seiner häuslichen Umgebung zusammen als mit seinem medizinischen Befund, und es kam zum Streit. Niemand erwartete ernstlich, dass sich das Gehör meines Cousins durch den Klinikwechsel sofort bessern würde. Auch wenn es niemand aussprach, hatten alle diese Hoffnung beinahe aufgegeben.
    Mein Cousin wohnte nicht weit von mir entfernt, aber ich war gut zehn Jahre älter, und zwischen uns war nie wirklich eine freundschaftliche Beziehung entstanden. Bei
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