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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau
Autoren: Haruki Murakami
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Familientreffen hatte ich ihn irgendwohin mitgenommen oder mit ihm gespielt, mehr aber auch nicht. Dennoch betrachteten auf einmal alle meinen Cousin und mich als Paar; sie schienen zu glauben, er hänge besonders an mir und sei auch mein Lieblingscousin. Lange Zeit konnte ich mir das nicht erklären. Als ich jetzt aber sah, wie er sein linkes Ohr ständig mit leicht geneigtem Kopf in meine Richtung wandte, fand ich das seltsam rührend. Wie Regen, den man vor langer Zeit hat fallen hören, schlug sein Ungeschick eine Saite in mir an. Ich verstand nun ein wenig, warum unsere Verwandten uns zusammenbringen wollten.

    Nach sieben oder acht Haltestellen blickte mein Cousin wieder besorgt zu mir auf.
    »Ist es noch weit?«
    »Noch ein Stück. Aber es ist ein großes Krankenhaus, wir können es nicht übersehen.«
    Mit halbem Auge sah ich, wie der Wind, der durch das geöffnete Fenster blies, die Hutkrempen der älteren Leute und ihre Schals bewegte. Wer waren diese Leute bloß? Und wo wollten sie bloß hin?
    »Du, wirst du in der Firma von meinem Vater arbeiten?«, fragte mein Cousin.
    Verblüfft sah ich ihn an. Sein Vater, mein Onkel, leitete eine große Druckerei in Kobe. Aber ich hatte nie an diese Möglichkeit gedacht, und niemand hatte je etwas Derartiges angedeutet.
    »Davon habe ich noch nichts gehört«, sagte ich. »Wie kommst du darauf?«
    Mein Cousin errötete. »Ich dachte nur, das ginge vielleicht«, sagte er. »Das wäre doch gut, oder? Du könntest hier bleiben, und alle wären froh.«
    Der Name der nächsten Haltestelle wurde angesagt, aber niemand drückte den Haltknopf. An der Haltestelle wartete auch niemand.
    »Aber ich muss nach Tokyo zurück, es gibt Dinge, die ich dort zu erledigen habe«, sagte ich. Mein Cousin nickte wortlos. Nicht eine einzige Sache habe ich dort zu erledigen. Aber ich kann doch nicht einfach hier bleiben .
    Als der Bus weiter den Hang hinauffuhr, standen die Häuser allmählich weiter voneinander entfernt, und dichte Äste warfen tiefe Schatten auf die Straße. Wir kamen an ein paar Häusern mit niedrigen Zäunen vorbei, die durch ihren Anstrich ausländisch wirkten. Die Brise wurde angenehm kühl. Sooft der Bus um die Kurve fuhr, war plötzlich unter uns das Meer zu sehen und verschwand wieder. Schweigend betrachteten mein Cousin und ich die Landschaft, bis der Bus an der Klinik hielt.

    Die Untersuchung werde eine Weile dauern, sagte mein Cousin; er komme allein zurecht, und ich solle doch irgendwo auf ihn warten. Nachdem ich kurz den zuständigen Arzt begrüßt hatte, verließ ich das Untersuchungszimmer und ging in die Cafeteria. Da ich am Morgen kaum etwas gegessen hatte, war ich hungrig, aber ich fand auf der Speisekarte nichts, worauf ich Appetit hatte. Schließlich bestellte ich nur einen Kaffee.
    Es war ein Wochentag, und in der Cafeteria saß außer mir nur noch eine Familie. Der Vater, der etwa Mitte vierzig war, trug einen blau-weiß gestreiften Schlafanzug und Plastiksandalen. Die Mutter und zwei kleine Mädchen, Zwillinge, waren ihn besuchen gekommen. Die Mädchen trugen die gleichen weißen Kleidchen und tranken, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, mit ernster Miene ihren Orangensaft. Die Verletzung oder Krankheit ihres Vaters schien jedoch nicht allzu ernst zu sein, denn sowohl die Eltern als auch die Kinder sahen gelangweilt aus.
    Vor dem Fenster befand sich eine Rasenfläche. Ein Rasensprenger drehte sich klackend und warf einen silbrigen Dunst über das grüne Gras. Zwei Vögel mit langen Schwänzen schossen kreischend darüber hinweg und waren bald außer Sicht. Jenseits des Rasens lagen ein paar Tennisplätze, aber man hatte die Netze entfernt, und es war niemand darauf zu sehen. Hinter den Tennisplätzen stand eine Reihe von Keyakibäumen, und zwischen deren Ästen hindurch sah man das Meer. Auf den kleinen Wellen glitzerte hier und da die Frühsommersonne. Der Wind zauste die jungen Blätter der Keyakibäume und verwehte sacht den Sprühregen aus dem Sprinkler.
    Mir war, als hätte ich diese Landschaft vor langer, langer Zeit schon einmal gesehen. Den ausgedehnten Rasen, die Zwillingsmädchen, die Orangensaft tranken, die irgendwohin fliegenden Vögel mit den langen Schwänzen, das Meer, das jenseits der Tennisplätze ohne Netze zu sehen war … Aber das bildete ich mir nur ein. Es war eine sehr lebhafte, sehr real anmutende Illusion, gleichwohl jedoch eine Illusion. Ich war noch nie zuvor in diesem Krankenhaus gewesen.
    Ich legte die Füße auf den
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