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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau
Autoren: Haruki Murakami
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Stuhl gegenüber, atmete tief durch und schloss die Augen. Im Dunkeln nahm ich einen weißen Klumpen wahr. Wie eine Mikrobe unter dem Mikroskop dehnte er sich aus und zog sich zusammen. Er veränderte seine Form, blähte sich, zerfiel, nahm neu Gestalt an.

    Es war acht Jahre her, dass ich in dem anderen Krankenhaus gewesen war. Ein kleines Krankenhaus an der Küste. Vom Fenster der Cafeteria aus sah man nichts als Oleanderbüsche. Es war ein Krankenhaus, und es roch nach Regen. Die Freundin meines Freundes war dort an der Brust operiert worden, und wir fuhren sie besuchen. Das war in den Sommerferien unseres zwölften Schuljahrs.
    Sie hatte zwar eine Operation hinter sich, aber keine große; man hatte nur die Stellung einer ihrer Rippen korrigiert, die ein wenig nach innen gebogen war. Es war keine Notoperation, nur ein Eingriff, der irgendwann gemacht werden musste, also hatte das Mädchen beschlossen, ihn gleich hinter sich zu bringen. Die Operation selbst war rasch erledigt, aber sie sollte sich danach schonen und noch zehn Tage in der Klinik bleiben. Wir fuhren auf einer 125er Yamaha hin – auf dem Hinweg fuhr mein Freund, auf dem Rückweg ich. Er hatte mich gebeten, ihn zu begleiten. »Ich hab keine Lust, allein in ein Krankenhaus zu gehen«, sagte er.
    In einem Süßwarengeschäft am Bahnhof kaufte mein Freund eine Schachtel Pralinen. Mit einer Hand hielt ich mich an seinem Gürtel fest, mit der anderen umklammerte ich die Pralinen. Es war ein heißer Tag, und mehrmals wurden unsere Hemden schweißnass und trockneten dann wieder im Fahrtwind. Beim Fahren sang mein Freund irgendein blödes Lied. Ich erinnere mich noch an den Geruch seines Schweißes. Nicht lange danach starb er.

    Sie trug einen blauen Schlafanzug und einen dünnen Morgenmantel, der ihr bis zu den Knien reichte. Zu dritt saßen wir an einem Tisch in der Cafeteria, rauchten Short Hopes, tranken Cola und aßen Eis. Sie war wie ausgehungert und verdrückte zwei Doughnuts mit Zuckerguss, zu denen sie Kakao mit massenhaft Sahne trank. Doch anscheinend genügte ihr das noch nicht.
    »Wenn du rauskommst, bist du ein fettes Ferkel«, sagte mein Freund ein bisschen angeekelt.
    »Ich darf das – schließlich muss ich mich erholen«, sagte sie und wischte sich mit ihrer Papierserviette die von den Doughnuts fettigen Finger ab.
    Während die beiden sich unterhielten, betrachtete ich die Oleanderbüsche vor dem Fenster. Sie waren riesig, fast wie ein kleiner Wald. Und ich hörte die Wellen rauschen. Das Geländer vor den Fenstern war ganz rostig von der ständigen salzigen Brise. Ein sehr altmodischer Deckenventilator rührte die stickig-heiße Luft im Raum um. In der Cafeteria roch es nach Krankenhaus. Der Schlafanzug des Mädchens hatte zwei Brusttaschen; in der einen steckte ein kleiner goldener Kugelschreiber. Wenn sie sich vorbeugte, konnte ich in dem V-Ausschnitt ihre kleinen weißen Brüste sehen.

    An diesem Punkt brach meine Erinnerung jäh ab. Ich versuchte, mir vor Augen zu führen, was danach geschehen war. Cola getrunken, Oleander betrachtet, ihre Brüste gesehen – und dann? Ich rutschte auf dem Plastikstuhl herum und versuchte, den Kopf in die Hände gestützt, in tiefere Gedächtnisschichten vorzudringen. Es war, wie wenn man mit der Spitze eines schmalen Messers einen Korken herauspult.
    … Ich hatte beiseite gesehen und mir vorzustellen versucht, wie die Ärzte das Fleisch ihrer Brust aufgeschnitten, ihre Hände in Gummihandschuhen hineingeschoben und die Stellung der Rippe korrigiert hatten. Aber das kam mir doch arg unwirklich vor, wie ein Gleichnis für irgendetwas.
    Ach ja – danach hatten wir über Sex gesprochen. Jedenfalls mein Freund. Was hatte er gesagt? Bestimmt etwas über mich. Wie ich mich erfolglos bemüht hatte, ein Mädchen zu verführen. Eigentlich keine tolle Geschichte, aber weil er alles so übertrieb und so lustig erzählte, musste seine Freundin furchtbar lachen. Ich musste selbst lachen. Er konnte gut erzählen.
    »Bring mich nicht so zum Lachen«, sagte das Mädchen ein bisschen vorwurfsvoll. »Wenn ich lache, tut mir die Brust weh.«
    »Wo denn«, fragte mein Freund.
    Sie drückte mit einem Finger auf eine Stelle ihres Schlafanzugs – oberhalb des Herzens, etwas rechts von ihrer linken Brust. Darüber machte mein Freund irgendeinen Scherz, und sie lachte wieder.

    Ich blickte auf die Uhr. Es war 11 Uhr 45, und mein Cousin war noch nicht zurück. Die Mittagszeit rückte näher, und in der Cafeteria wurde
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