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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin
Autoren: Anne Holt
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fotografiert zu werden. Håkon Sand hatte grüne Leichen, blaue Leichen, rote, gelbe und knallbunte Leichen gesehen, außerdem die schönen rosa Opfer von Vergiftungen durch Kohlenoxydgas, deren Seelen es in diesem Jammertal einfach nicht mehr ausgehalten hatten.
    Trotzdem waren diese Polaroidbilder krasser als fast alles, was er je gesehen hatte. Jäh warf er sie beiseite und nahm sich das Protokoll vor. Er setzte sich damit in den unbequemen Sessel, eine billige Kunstledergeschichte, im Rücken zu rund und ohne die dringend notwendige Stütze für das Kreuz.
    Nüchterne Tatsachen waren in einer restlos unbeholfenen Sprache zu Papier gebracht worden. Håkon Sand runzelte ärgerlich die Stirn. Angeblich wurden die Aufnahmebedingungen für die Polizeischule immer strenger. Die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, konnte unmöglich gefordert sein.
    Er unterbrach sich am Ende der Seite.
    »Anwesend bei der Tatortbegehung war die Zeugin Karen Borg. Sie fand den Verstorbenen bei einem Spaziergang mit Hund. Die Leiche war bekotzt. Zeugin Borg sagt, daß sie das war.«
    Borgs Adresse und Berufsbezeichnung bestätigten, daß es sich um Karen handelte. Er fuhr sich durch die Haare und stellte fest, daß er sie morgens hätte waschen müssen. Er beschloß, Karen in den nächsten Tagen anzurufen. Wenn die Bilder die Wahrheit sagten, mußte die Leiche schlimm ausgesehen haben. Er würde auf jeden Fall anrufen.
    Er legte die Papiere zurück auf den Tisch und klappte die Mappe zu. Für einen Moment fiel sein Blick auf die Namen oben links: Sand/Kaldbakken/Wilhelmsen. Der Fall gehörte ihm. Kaldbakken war der verantwortliche Hauptkommissar, Hanne Wilhelmsen Chefermittlerin.
    Zeit für die Geldbußen.
    In der kleinen Holzkiste lag ein dicker Stapel Verhaftungsprotokolle. Rasch blätterte er sie durch, hauptsächlich Suff. Einer, der seine Frau mißhandelt hatte, ein offenbar Geistesgestörter, der später an diesem Tag ans Psychiatrische Krankenhaus weitergereicht werden sollte, und ein gesuchter Betrüger. Die drei letzteren überließ er vorerst sich selbst. Er wollte sich die Säufer vornehmen. Wozu ihnen Geldbußen auferlegt wurden, war ihm allerdings ziemlich unklar. Die wenigen, die bezahlt wurden, übernahm das Sozialamt. Solch ein Reigen der öffentlichen Gelder trug sicher zu einer Art Beschäftigungspolitik bei, war doch aber wohl kaum besonders vernünftig.
    Ein Festnahmeprotokoll war noch übrig. Es wies keinerlei Namen auf.
    »Was ist denn das?«
    Er wandte sich an den Wachhabenden, einen übergewichtigen Burschen von Mitte Fünfzig, der niemals mehr als die drei Streifen auf seinen Schulterklappen bekommen würde; Streifen, die niemand ihm verwehren konnte. Sie wurden nach dem Dienstalter vergeben, nicht nach Leistungen. Håkon Sand wußte längst, daß dieser Mann dumm war.
    »Ein Idiot. Der saß schon hier, als ich gekommen bin. Arschloch. Hat sich geweigert, seine Personalien anzugeben.«
    »Was hat er angestellt?«
    »Nichts. Saß irgendwo im Weg rum. Blutüberströmt. Du kannst ihm ein Knöllchen geben, weil er seine Personalien nicht nennen will. Wegen Störung der öffentlichen Ordnung. Und weil er ein Dreckskerl ist.«
    Nach fünf Jahren bei der Truppe hatte Sand gelernt, bis zehn zu zählen. Jetzt zählte er bis zwanzig. Er wollte keinen Ärger bekommen, bloß weil ein Dussel in Uniform nicht begriff, daß man eine gewisse Verantwortung übernimmt, wenn man Menschen ihrer Freiheit beraubt.
    Zelle vier. Er nahm einen Kollegen mit. Der namenlose Mann war wach. Er starrte sie mit resigniertem Gesicht an; offensichtlich wußte er, was sie von ihm wollten. Steif und starr saß er auf der Pritsche und sagte seine ersten Worte in polizeilicher Obhut.
    »Kann ich etwas zu trinken haben?«
    Seine Sprache war Norwegisch und doch nicht Norwegisch. Håkon Sand konnte sie nicht einordnen, der Mann sprach perfekt und doch nicht Norwegisch. Ob er Schwede war?
    Natürlich bekam der Mann etwas zu trinken. Er bekam eine Cola, die Håkon Sand selbst bezahlte. Er durfte sogar duschen. Und er bekam ein sauberes T-Shirt und eine frische Hose. Alles stammte aus Sands Schrank im Büro. Bei jeder Wohltat steigerte sich das Murren des Arrestpersonals angesichts dieser Sonderbehandlung. Aber Håkon Sand ließ die blutigen Kleider in eine Tüte stecken und sagte, als er die schwere Metalltür aufschloß: »Diese Klamotten sind wichtiges Beweismaterial.«
     
    Der junge Mann war wirklich wortkarg. Sein schlimmer Durst nach den
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