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Blinde Goettin

Blinde Goettin

Titel: Blinde Goettin
Autoren: Anne Holt
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dürfen. Der Schweiß der Reue klebte ihm das Uniformhemd an den Leib. Schon auf dem Weg zu seinem Büro zerrte ein Finger am Kragen. Die Uniform war ein Scheiß. Zu Anfang waren alle Juristen davon fasziniert, sie standen zu Hause vor dem Spiegel und übten, strichen über die Rangabzeichen an den Schulterklappen; einen Streifen, eine Krone und einen Stern für einen Polizeirat, einen Stern, aus dem zwei oder drei werden konnten, wenn man lange genug aushielt, um Adjutant oder Inspektor zu werden. Sie lächelten ihr Spiegelbild an, richteten sich unwillkürlich auf, stellten fest, daß ihre Haare geschnitten werden mußten, und fühlten sich aufrecht und gepflegt. Schon nach einigen Arbeitsstunden stellten sie dann aber fest, daß Acryl übel roch und daß der Hemdkragen zu steif war und am Hals eine wunde, rote Spur hinterließ. Der Dienst als Wachhabender war das Letzte. Trotzdem waren alle scharf darauf. Der Job war in der Regel öde und zum Ausgleich erschreckend anstrengend. Schlafen war verboten; ein Verbot, dem die meisten mit einer stinkenden, ungewaschenen Wolldecke als Schutz über der Uniform trotzten. Aber die Schicht wurde gut bezahlt. Jeder Jurist von einem Jahr Laufzeit kam einmal im Monat an die Reihe, was pro Jahr fünfzigtausend Kronen mehr in der Lohntüte ergab. Das war es wert. Der große Nachteil war, daß diese Schicht nach einem vollen Arbeitstag um drei Uhr nachmittags begann, und wenn sie am nächsten Morgen um acht endete, fing wieder ein normaler Arbeitstag an. An den Wochenenden war der Dienst in Vierundzwanzigstunden-Schichten eingeteilt, was ihn besonders lukrativ machte.
    Sands Vorgängerin war ungeduldig. Der Wachwechsel sollte vorschriftsmäßig um neun Uhr stattfinden, aber aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft durfte der Sonntagswachhabende eine Stunde später kommen. Der, der nun endlich Feierabend hatte, trat dann schon von einem Fuß auf den anderen. Auch bei der blonden Polizeirätin war das der Fall.
    »Alles, was du wissen mußt, steht im Protokoll«, sagte sie.
    »Was den Mord vom Freitagabend angeht, da liegt eine Kopie auf dem Schreibtisch. Es ist ganz schön viel zu tun. Ich habe schon vierzehn Haftanträge und zwei Paragraph-elf-Maßnahmen ausgeschrieben.«
    O verdammt. Auch mit dem besten Willen konnte Håkon Sand nicht einsehen, daß er kompetenter darin sein sollte, über Fürsorgemaßnahmen zu entscheiden, als das Jugendamt selbst. Dennoch mußte die Polizei immer grünes Licht geben, wenn ein Kind außerhalb der Bürozeiten unbürokratisch nervig war oder zu sehr litt. Zwei am Samstag, das bedeutete, statistisch gesehen, keins am Sonntag. Er konnte immerhin hoffen.
    »Und der Hinterhof sitzt voll, du kannst ja mal eine Runde drehen, wenn du Zeit hast«, sagte die Blonde.
    Er bekam die Schlüssel und befestigte sie mit großer Mühe an seinem Gürtel. Ansonsten war alles so, wie es sein sollte. Alle Papiere lagen vor. Das Protokoll war auf dem laufenden.
    Die Formalitäten waren erledigt. Er beschloß, sofort eine Runde Bußbescheide einzulegen, da der Sonntagmorgen seine feuchte, aber zweifellos beruhigende Hand über die wegen Suff Inhaftierten gelegt hatte. Ehe er aufbrach, blätterte er ein wenig in den Papieren auf seinem Schreibtisch. Er hatte im Radio von dem Mord gehört. Am Akerselv war eine arg mißhandelte Leiche gefunden worden. Die Polizei verfügte über keinerlei Spuren. Gerede, hatte er gedacht. Die Polizei hat immer Spuren, nur sind sie oft so schlecht.
    Die Bilder vom Tatort lagen natürlich noch nicht vor. Trotzdem entdeckte er in der grünen Mappe einige Polaroidaufnahmen. Sie waren grotesk. Håkon Sand würde sich nie daran gewöhnen, Bilder von Toten zu sehen. In seinen fünf Jahren bei der Polizei hatte er das oft genug gemußt. Alle verdächtigen Todesfälle wurden der Polizei gemeldet und unter dem Code »Verd.« in den Computer eingegeben. Verdächtige Todesfälle waren ein weites Feld. Er hatte verbrannte Menschen gesehen, ertrunkene, von Auspuffgasen vergiftete, erstochene, erschossene und erwürgte. Sogar jene bedauernswerten alten Menschen, denen nur das Verbrechen widerfahren war, daß monatelang niemand mehr an sie gedacht hatte – bis schließlich der Nachbar in der Wohnung unter ihrer im Eßzimmer einen unangenehmen Geruch wahrnahm, empört aufblickte und an der Decke einen feuchten Fleck entdeckte; sogar diese armen Wesen wurden als »Verd.« registriert und erfuhren die zweifelhafte Ehre, post mortem ein letztes Mal
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