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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Autoren: Vea Kaiser
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konnte, rief er auf ihre Bitten hin Freunde in der Stadt an, Ärzte, Universitätsbeamte, die Sekretärin der medizinischen Fakultät, ob irgendjemand von einem Holzschnitzer gehört habe, der in die Hauptstadt gegangen sei, um Arzt zu werden. Die meisten lachten ihn aus: ein Schnitzer aus den Alpen?
    Der Zufall wollte es, dass der ziegengesichtige Arzt auf Johannes Gerlitzens Spur kam. Zu Ostern 1969 kam der Sohn des Arztes, der ebenfalls Medizin studierte, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, während der Feiertage nach Hause und hatte sein Lehrbuch über Parasitologie dabei, dessen Inhalt demnächst abgeprüft werden würde. Der Vater erzählte beim Abendessen von jenem Schnitzer oben bei den Bergbauern, der seinerzeit einen Bandwurm gehabt habe und von dem Tier so krankhaft besessen gewesen sei, dass er sich in den Kopf gesetzt habe, parasitär im Menschen lebende Würmer zu erforschen. Ohne Schulabschluss! Amüsiert nahm er das Lehrbuch zur Hand, blätterte darin, bis ihm vor Schreck eine Erbse in die Luftröhre rutschte und der Sohn seine Grundkenntnisse in Erster Hilfe anwenden musste. Ein der vierten Auflage angehängtes Zusatzkapitel über die Finnen des Schweinebandwurmes in den Lungen von Kleinkindern war von einem gewissen Doktor Johannes Gerlitzen verfasst worden. Der Arzt wollte gern an einen Zufall glauben, doch er war wissenschaftlich genug gebildet, um solche Zufälle nicht für möglich zu halten.
    Es hatte einige Zeit gedauert, die Alpen zu durchqueren. Johannes Gerlitzen hatte sich von Arbeit zu Arbeit gefragt, ein Monat Hilfsarbeiter hier, ein Monat Hilfsarbeiter dort, und Schritt für Schritt hatte er sich von den Sporzer Alpen entfernt. Egal welcher Tätigkeit er nachgegangen war, ob er beim Staudammbau ausgeholfen oder eine kurze Anstellung bei der Bahn gefunden hatte, am meisten interessiert hatte er sich für die Ärzte, die auf jeder Großbaustelle die Arbeiter betreuten. In seiner Freizeit nach Schichtende hatte er die Krankenlager aufgesucht und gefragt, ob er ein bisschen zusehen und sich nützlich machen dürfe. Mit der Zeit hatte er sich angewöhnt, bei keiner Verletzung wegzuschauen, egal, ob sich einer geschnitten oder einem anderen ein Steinschlag das halbe Gesicht zertrümmert hatte. Bevor er sich sein erstes Wachstuchheft kaufte, hatte er, wann immer er ein Buch in die Hand bekommen hatte, die letzten Leerseiten herausgelöst und in kleiner gedrungener Schrift notiert, was er gesehen hatte, um nichts zu vergessen. Er fand Gefallen am Schreiben und begann auch bald, seine eigenen Gedanken festzuhalten. Nur über Elisabeth schrieb er kein einziges Wort. Wenn er abends in den Arbeiterbaracken übernachtete und der Wind durch die notdürftig zusammengenagelten Latten pfiff, dass sogar den Mäusen die Zähne klapperten, kämpfte Johannes mit den Tränen und klammerte sich eisern an seinen Entschluss. Er hatte entschieden, das Dorf zu verlassen, seinen Traum zu verwirklichen und Arzt zu werden. Vorher, so hatte er sich geschworen, würde er keinen Fuß mehr nach St.   Peter setzen, egal, wie sehr es ihn dorthin zurückzog. Und während das Schnarchen der anderen Arbeiter das Rauschen der Winde rundherum übertönte, betete Johannes Gerlitzen nicht zum Vater, zum Sohn oder zu den Heiligen, so wie man es in St.   Peter am Anger tat, wenn man Hilfe brauchte, sondern er erinnerte sich an die medizinischen Beschreibungen in jenem Wurmbuch, das er aus der Dorfbibliothek mitgenommen hatte. Bis er einschlief, stellte er sich vor, selbst Wurmkrankheiten zu erforschen und anschließend darüber zu schreiben – Nacht für Nacht.
    Nach einem Dreivierteljahr der Wanderschaft erreichte Johannes Gerlitzen das Flachland, und nachdem er sich noch etwas Geld auf einer Baustelle verdient hatte, stand er am Neujahrstag des Jahres 1961 zu Sonnenaufgang auf und fuhr per Anhalter die letzten Kilometer bis in die Hauptstadt. Je weiter seine Mitfahrgelegenheit in die Stadt hineinfuhr, desto größer wurden Johannes’ Augen. Schon wenige Meter nach der Stadtgrenze hatte er mehr Häuser und Menschen gesehen als in seinem bisherigen Leben. Erst als der Fahrer des Wagens scherzte, Johannes solle sich nicht die Nase an der Fensterscheibe platt drücken, erwachte er aus seinem Staunen und lächelte.
    Bei der Tante eines Kollegen vom Bau, den er auf seiner Reise kennengelernt hatte, bezog er schließlich ein Untermietszimmer, das kaum groß genug war, um eine Matratze darin unterzubringen, und kein
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