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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Autoren: Vea Kaiser
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gegeben. Auch seine Freunde aus der Stammtischrunde dachten irgendwann nicht mehr an ihn und hörten nach drei Jahren auf, Witze über Bandwürmer zu machen. Nach und nach gründeten sie Familien, neue Häuser wurden gebaut, weitere Bäume gefällt, und da niemand mehr über die Vergangenheit sprach, hatten bald alle vergessen, warum Johannes weggegangen war. Nur auf der Kirchenstiege machte man ihm weiterhin jeden Sonntag Vorwürfe, dass er seine Frau und seine Tochter alleingelassen hatte.
    Um das große Haus zu erhalten, reichten Elisabeths Einkünfte nicht aus. Daher half sie im Sommer verschiedenen Bauern bei der Ernte und verrichtete Arbeiten, die sonst nur die Männer machten, bis im Spätsommer 1967 jenes Unglück geschah, bei dem eigentlich nichts passierte. Die Feldarbeiter waren in Eile, das Heu einzubringen, da wie so oft im Spätsommer dichte schwarze Gewitterwolken am Großen Sporzer hingen und es nur eine Frage von Stunden war, bis es losregnete. Wenn ein solcher Regen einsetzte, konnte er Tage dauern, da Wolken über St.   Peter nicht weiterziehen konnten – einmal ins Tal gepresst, waren die Sporzer Alpen für sie wie eine Sackgasse. Elisabeth fuhr den Traktor von Leopold Kaunergrat. Sie war eine gute Fahrerin, die einzige Frau, die sich traute, den fünfhunderter Fendt mit Anhänger über die abfallenden Hänge zu steuern, doch als sie ausstieg, um das rostige Scharnier der Anhängerklappe zu fixieren, machte sich der Traktor selbstständig. Er rollte langsam unter Elisabeths Händen davon, woraufhin sie aufschrie und ihm nachhechtete. Auf dem offenen Feld drehten sich alle um und erschraken, doch Elisabeth holte zur Fahrerkabine auf, sprang hinein und brachte den Traktor nach einigen Metern zum Stehen. Grölend jubelten ihr die Männer zu.
    »Super Madl!«, schrien sie, beeindruckt von ihrem schnellen Reflex, von der waghalsigen Akrobatik, mit der sie aufsprang, von der Leichtigkeit, mit der sie die Situation entschärfte. Das Feld befand sich nördlich einiger Bauernhöfe und fiel talwärts steil ab – niemand wollte sich ausmalen, was passiert wäre, wenn Elisabeth den Traktor nicht zum Stehen gebracht hätte und er mit hohem Tempo in einen der Höfe gerast wäre.
    Am Abend erzählten die Männer im Wirtshaus einem jeden, der nicht dabei gewesen war, von der mutigen Heldentat der Elisabeth Gerlitzen. Sie prosteten sich auf ihr Wohl zu und schwelgten in Kindheitserinnerungen, wie die Lisl immer schon das kühnste Mädl der Volksschule gewesen war. Sie erinnerten sich an die glorreiche Zeit der Bande , als die Burschen in ihrem Rabaukenverein den Bach aufgestaut und Baumhäuser gebaut hatten. Elisabeth war als einziges Mädchen dabei gewesen, denn nur sie hatte sich getraut, als Mitgliedschaftsmutprobe von einer Nacktschnecke abzubeißen. Dieses Aufnahmeritual hatte sie bravouröser bestanden als die Bandenführer, die selbst ausgespuckt oder gespien hatten – nur Elisabeth hatte auf dem glitschig-weichen Hinterteil herumgekaut und völlig unbeeindruckt festgestellt: »Voi salzig!«
    Elisabeth saß an jenem Abend nicht am Stammtisch des Wirtshaus Mandling, sie lag im Bett und zitterte, zitterte wie seit dem Moment, als sie den Traktor quergestellt und den Motor abgeschaltet hatte. Ilse, das hübsche siebeneinhalbjährige Mädchen mit Elisabeths großen, grünen Augen und einem nicht zu bändigenden schwarzen Wuschelkopf, lag neben ihr, streichelte den Kopf der Mutter und flüsterte ihr zu:
    »Is jo guat Mama, is jo nix passiert.«
    Doch das Zittern hörte nicht mehr auf.
    Nach einigen Tagen wurde es zwar weniger und war nur zu merken, wenn Elisabeth ihre Hände ganz still auf eine Fläche legte, aber nach einem halben Jahr begann es wieder stärker zu werden, sodass die Teller laut klapperten, wenn Elisabeth abwusch, und sie es bald nicht mal mehr schaffte, ein Marmeladenglas zu öffnen. Ein Jahr später rutschten ihr immer öfter Gegenstände aus der Hand, Geschirrtücher, die Gießkanne, ein fertiger Kuchen, den sie aus dem Backrohr holen wollte. Nach anderthalb Jahren schaffte sie es kaum noch, einen Reißverschluss zu schließen oder sich die Schuhe zuzubinden, und fast zwei Jahre später war das Zittern so schlimm, dass ihr Körper kaum noch zur Ruhe kam und sie bereits morgens einen Muskelkater hatte, als wäre sie die ganze Nacht um ihr Leben gelaufen.
    Der ziegengesichtige Arzt aus Lenk wusste auch nicht so recht, was man noch tun könne, und als sie kaum mehr schlucken, essen, trinken
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