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Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)

Titel: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Autoren: Vea Kaiser
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fließend Wasser hatte. Man hatte knapp Platz für eine kleine Kommode, einen Stuhl und den Holzofen. Wenigstens gab es auf dem Gang eine Toilette mit Wasserspülung, die ihn zutiefst beeindruckte. In St.   Peter am Anger wusste man damals noch nicht, dass es Alternativen zu den Plumpsklos gab, die im Winter für zahlreiche Harnwegsentzündungen sorgten und im Sommer voller schweinsaugengroßer Fleischfliegen waren.
    Bald entschied sich Johannes, einen Teil seiner Ersparnisse in ein ordentliches Hemd zu investieren, und an seinem zwanzigsten Geburtstag, am Dienstag in der vierten Februarwoche 1961, marschierte er so früh ins Tröpferlbad, dass noch alle Straßenlampen schienen. Im Anschluss suchte er frisch gestriegelt das k.   k. Hof-Naturalienkabinett auf. Nach zwei Weltkriegen und einer untergegangenen Monarchie war es zwar in Naturhistorisches Museum umbenannt worden, doch das Fehlen des Adelstitels tat der Bewunderung des Johannes Gerlitzen keinen Abbruch. Kaum dass er den ausgestopften Hund des Museumsgründers Franz Stephan von Lothringen an der majestätischen Eingangstreppe betrachtet hatte, war er froh, so früh aufgestanden zu sein. Er blieb, bis ihn der Saalwächter nach Hause schickte, und hatte dennoch das Gefühl, nicht lange genug dort gewesen zu sein. Endlich sah Johannes Gerlitzen all die anderen Würmer, die nicht in seinem Darm gewesen waren und von denen er nur gelesen hatte: Bandwürmer, Fadenwürmer, Saugwürmer der Lunge, Saugwürmer der Leber, Schweinelungen gespickt mit Finnen und unzählige mehr. Es gab sogar Mikroskope, an die sich der Besucher unter den Argusaugen des Saalwächters setzen konnte, um die Körper von Würmern vergrößert zu bestaunen. Wie fein die Glieder waren! Wie stark ausgeprägt die Fangzähne! Johannes lief es kalt den Rücken herunter bei dem Gedanken, dass sich solche Zähne einst in der Innenwand seines Dünndarms verkeilt hatten. Die meiste Zeit verbrachte er im Saal der wirbellosen Weichtiere, aber er spazierte auch durch die anderen Säle des Obergeschosses. Die Steine und Mineralien im Parterre sparte er aus – inmitten der Vielfalt der Welt hatte er das Gefühl, in St.   Peter sein Leben lang genug Steine gesehen zu haben. Manchmal bekam er Atemnot und musste sich setzen. All die Eindrücke überwältigten ihn, und er war überfordert von der Frage, wie er den Rest der Welt bisher hatte ignorieren können. Wie war es möglich, auf diesem gewaltigen Erdball zu leben, und nichts anderes zu kennen als den Ort, in dem man geboren und aufgewachsen war? Johannes Gerlitzen setzte sich auf einen Schemel und atmete tief ein. Im Naturhistorischen Museum roch es intensiv nach Alaun, Aluminiumgerbstoff und Borsäure. Die Saalwächter mussten aus diesem Grund nach einem Arbeitstag zwanzig Minuten mit sehr viel Seife duschen, doch für Johannes Gerlitzen war dies der Duft der Freiheit.
    Einige Wochen später hatte sich seine Euphorie jedoch wieder gelegt, denn er hatte es sich etwas einfacher vorgestellt, ein Medizinstudium zu beginnen. Auf der Universität hatte sich Johannes erklären lassen, dass er eine Studienzulassungsprüfung benötige, aber der Blick in die Anforderungsliste dieser Prüfung ließ ihn verzweifeln. Es war ihm schier unbegreiflich, warum er, wenn er Arzt werden wollte, seitenlange mathematische Aufgaben lösen oder lateinische Texte übersetzen können musste. Aus seiner monatelangen Lektüre im Gemeindeamt von St.   Peter wusste er zwar, dass in der Medizin alles mit lateinischen Wörtern ausgedrückt wurde, doch er war zugleich davon überzeugt, dass es reichen müsse, diese einzelnen Wörter zu kennen, ohne lesen zu können, was irgendwelche Kaiser geschrieben hatten, die lange vor Jesu Geburt gestorben waren. Und so verfluchte Johannes Gerlitzen jene Menschen, die sich die Studienzulassungsprüfung ausgedacht hatten und begann, wie früher Statuen zu schnitzen. Sein einziger Lichtblick war, dass die Menschen in der Stadt das Fünffache für seine Statuen bezahlten, als er in den Alpen erhalten hatte.
    An Sonntagen ging er ab und zu ins Wirtshaus, gönnte sich ein Stück Fleisch und trank eine Limonade – dem Alkohol hatte er seit der Geburt der kleinen Ilse abgeschworen. An jenem Sonntag im Juli 1961, an dem sich sein Leben schließlich für immer verändern sollte, hatte Johannes gerade ein Surschnitzel mit Erdäpfelsalat gegessen und war überaus niedergeschlagen, weil er mittlerweile seit einem halben Jahr in der Stadt lebte, ohne seinem
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