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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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Glaubens sind, grenzt sie aus; Frauen kann sie nicht als gleichberechtigt akzeptieren. Die Türkei ist noch nicht reif für eine dauerhafte Beziehung mit einem Partner, der anders ist als sie. Eingeklemmt zwischen der autoritären Herrschaft der alten kemalistischen Elite, die laizistisch, aber nicht demokratisch ist, und der politisch konservativen neuen Elite, die zwar europäisch »modern« ist, aber nicht laizistisch werden will, verharrt sie im ungeklärten Sowohl-als-auch. Sie fördert den Islam als Leitkultur und spielt Demokratie.
    Aber es genügt nicht, sich das europäische Brautkleid über den Tschador zu werfen, es genügt nicht, um die Chancen auf Europa zu erhöhen, kosmetische »Verschönerungen« an den Gesetzen vorzunehmen, ohne zugleich die innere Bereitschaft aufzubringen, damit auch die Lebenswirklichkeit zu verändern. Wenn Ehrenmorde einerseits zwar durch ein neues Gesetz strafrechtlich schärfer geahndet werden sollen, zugleich aber die »Selbstmord«-Rate junger Frauen wahrnehmbar ansteigt, dann zeigt dies, wie die neuen Gesetze faktisch unterlaufen werden. Die Reformen, die in der Türkei verabschiedet werden, um EU-kompatibel zu werden, bleiben papierne Versprechen, wenn sie nicht mit Leben erfüllt werden. Demokratie ist kein Schattenspiel, wie das anatolische Karagöz, und Europa kein bloßes äußeres Gesetzeswerk.
    Die Krise der Türkei ist die Krise einer Gesellschaft, die sich selbst nichts zutraut; einer Regierungspartei, die sich mit den in ihren Augen »Ungläubigen« verbündet, um die Macht zu erhalten; einer Opposition, die nur rückwärtsgewandte Vorstellungen hat; eines Militärs, das dem eigenen Volk misstraut. Die Türkei wäre gut beraten, erst einmal das eigene Haus zu ordnen, sich eine Art Moratorium zu genehmigen, um über die eigene Zukunft nachzudenken. Denn wenn sie ein Teil Europas werden will, dann stehen ihr große Aufgaben bevor: Sie müsste sich von Grund aufreformieren. Die Türkei braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag, der die Grundrechte und die Würde des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt.
    Das heißt, demokratische Strukturen entwickeln, das Erziehungssystem reformieren, Gleichberechtigung durchsetzen, andere Religionen tolerieren, die Trennung von Staat und Religion ernst nehmen und die verdrängte Geschichte aufarbeiten. Europa kann mit seinen Erfahrungen und Ermahnungen, vielleicht auch mit Geld helfen. Aber die Türkei muss die Notwendigkeit zur Veränderung erkennen, sie sich zu eigen machen und ihren eigenen Weg dabei gehen. Wer ihren Beitritt unter den jetzigen Bedingungen befürwortet und darauf vertraut, dass das Land sich schon demokratisieren werde, wenn es erst einmal zur Union gehöre, spricht ihr von vornherein jede Möglichkeit ab, diesen Prozess aus eigener Kraft zu bewerkstelligen.
    Ich bin mir sicher, dass eine Entscheidung der in Deutschland lebenden Türken, Bürger Deutschlands mit allen Rechten und Pflichten zu werden, für alle von Vorteil ist. Für die Türken selbst, weil sie dadurch Verantwortung übernehmen können und nicht länger in einem Identitätskonflikt verharren müssen. Für Deutschland, weil die neuen Bürger an den demokratischen Entscheidungen teilhaben und sie mitverantworten. Für die Türkei, weil sie die Türken im Ausland nicht länger als »fünfte Kolonne« ihrer Interessen betrachten kann.
    Migranten können, wenn sie sich auf die »neue Heimat« einlassen, überall Erfolg haben. Sie sind in zwei Kulturen zu Hause, können aus beiden das Beste schöpfen, zu ihrem eigenen Nutzen und dem der aufnehmenden Gesellschaft.
    Darauf muss man sich einlassen und von der neuen Gesellschaft die guten Dinge annehmen, Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft übernehmen. Die deutsche Gesellschaft ist offen für Neues, sie verändert sich ständig. Wir Migranten sollten diese Chance nutzen; ob wir dies tun, hängt nur von uns selbst ab. Und wenn es uns misslingt, ist daran auch niemand schuld als wir selbst.
    Die alte Heimat Türkei wird profitieren. Von unserem Wissen, von unserer Erfahrung mit einem Sozialstaat, einer demokratischen Gesellschaft, mit der Gleichberechtigung und dem Schutz des Einzelnen. Schon heute profitiert die Türkei von der Auseinandersetzung um die Aufnahmekriterien.
    Nicht weil es um die EU geht, sondern weil damit für die Idee einer demokratischen Zivilgesellschaft auch in der Türkei geworben wird. Weil wir Migranten unserer Herkunftskultur die Vision einer menschenfreundlichen
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