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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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nicht der Gedanke der »Einheit«.
    Die Unterordnung unter ein »Höheres«, sei es das Türkentum oder die türkische Nation oder der Islam, ist Europa fremd – hier kann jeder einzelne Bürger seine Rechte gegen 25 Staaten einklagen, und die rechtsstaatliche Gesellschaft schützt ihn dabei. Dieser fundamentale Gegensatz ist dafür verantwortlich, dass die Türkei und Europa sich letztlich immer noch so fremd sind.
    Dem vom Islam geprägten Kollektivgedanken hängen Islamisten wie Kemalisten an. Keine dieser Gruppen – weder die kemalistischen Erben in Militär, Verwaltung und Wirtschaft, die ihre alte Vormachtstellung bedroht sehen, noch die aufstrebenden islamischen Populisten um Erdogan und Gül und schon gar nicht die Rechtsnationalisten der MHP , die sich mal an der Seite der einen, mal an der Seite der anderen finden – will dem Bürger zu mehr Rechten verhelfen. Jeder dieser Parteien geht es nur um die Erringung oder Behauptung der Vormachtstellung der eigenen Gruppe – man könnte auch sagen: des eigenen Stammes. Für die einen ist die »Freiheit«, das Kopftuch zu tragen, das Vehikel, mit dem sie hoffen, den Laizismus zu Fall zu bringen und durch den Islam zu ersetzen; für die anderen ist »die Fahne« das Symbol für den Machterhalt. Dass die von den Kemalisten propagierte Identität »Wir Türken« heute mehr und mehr von »Wir Muslime« abgelöst wird, ändert daran nichts, denn auch die ist nur wieder eine neue – andere ausgrenzende – Bevormundung.
    In den achtzig Jahren ihrer Existenz hat es solche »Stammesfehden« in der türkischen Republik immer wieder gegeben. Für jeden Stamm teilt sich die Welt – nach innen wie nach außen – manichäisch in »Freund« und »Feind«, in »wir« und »die anderen«. Entweder gehört man zu »uns«, dann wird man protegiert, oder man gehört zu den »anderen«, dann wird man ausgegrenzt. Differenzierung gibt es nicht, Rosa Luxemburgs unübertroffeneDefinition von Freiheit, die immer die Freiheit der Andersdenkenden ist, kennt man nicht. Nicht Freiheit und Toleranz zählen, sondern Türkentum, Ehre, Umma, Einheit, Nation. Sie werden zu Staatsprinzipien erhoben. Auf der Strecke bleibt die Entwicklung einer Bürgergesellschaft. Und mit ihr die Anerkennung von Minderheiten, die sich dieser verordneten Zwangsidentität nicht fügen wollen.
    Das pädagogische Modell
    Wer den möglichst raschen EU-Beitritt der Türkei befürwortet, argumentiert meist mit der »pädagogischen« Wirkung, die das Vorbild Europa für die türkische Gesellschaft haben könnte: Die europäischen Werte und Normen würden ihren eigenen Anpassungsdruck entfalten und die türkische Gesellschaft mit der Zeit modernisieren.
    Ich zweifle daran. In dieser Annahme steckt die schlichte Übertragung des Modells der »Modernitätsdifferenz«, das Migrationsforscher, wie beispielsweise Werner Schiffauer, jahrelang propagiert haben, obwohl die Empirie sie längst eines Besseren belehrt haben sollte. Es hat sich nicht verwirklicht, worauf Schiffauer und andere hofften – dass bei den Migranten die kollektiven Strukturen vom Individualismus, die Großfamilien von Kleinfamilien abgelöst werden und eine Lebensweise Platz greift, die in hohem Maße von Eigenverantwortlichkeit geprägt ist. 111
› Hinweis Solche Assimilierungen gab es höchstens in den Anfangsjahren der muslimischen Migrationsbewegung, als Einzelpersonen oder Kleinfamilien nach Deutschland kamen und lernten, sich anzupassen. Für viele war der Weg von Anatolien nach Deutschland nicht nur eine Reise in die Fremde, sondern auch eine Möglichkeit, sich aus der Kontrolle der Familie zu lösen, sich selbst zu finden – oder zu verlieren. Sie mussten sich mit der neuen Gesellschaft auseinandersetzen, wenn sie hier zurechtkommen wollten.
    Inzwischen aber hat sich das verändert. Zuwanderer, die aus Urfa nach Nürnberg oder nach Berlin-Neukölln kommen, finden dort dieselben Sozialstrukturen vor, die sie in ihrem Heimatort verlassen haben: Die »Familie«, die Nachbarschaft, der Hodscha, der Clanfürst sind immer schon da, man ist »unter sich«. Dasführt dazu, dass die Communitys sich nach außen verschließen. Man braucht »die anderen« nicht, sie verstehen einen ohnehin nicht, sie sind fremd, sie pflegen andere Sitten und Gebräuche, die man nicht teilt.
    Trotz Kindergarten, Schulpflicht und Sprachförderung müssen wir nach vierzig Jahren feststellen, dass die Integration einer großen Gruppe von Migranten, und zwar vornehmlich der
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