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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat.
Autoren: Necla Kelek
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türkischen, kurdischen und arabischen Muslime, gescheitert ist. Ursache sind neben den Versäumnissen der Politik – die lange ihre Aufgabe nicht wahrnahm, weil sie glaubte, die Migranten würden wieder gehen – vor allem auch die durch den Islam vorgegebenen und für rechtens erklärten patriarchalischen Stammes- und Clanstrukturen. Die Integration gelingt, wo Einzelne, auch einzelne Familien in der Lage sind, sich dem sozialen Druck und der Kontrolle der Herkunftsgemeinschaft zu entziehen. Dann greifen auch die Angebote der Gesellschaft auf Bildung und Teilhabe. Dort aber, wo die Umma, die Familie, der Respekt vor den Älteren dominieren, fallen diese Menschen zurück in die überkommenen Muster, grenzen sich selbst aus und richten sich in Gegengesellschaften ein. Die deutsche Gesellschaft lehnen sie ab.
    Wie aber soll die Integration von mehr als 70 Millionen Muslimen in die Wertegemeinschaft Europas funktionieren, wenn deren grundlegende Pfeiler – wie Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit, die Freiheit des für sich selbst verantwortlichen Individuums – abgelehnt werden? Wie soll ein Zusammenleben funktionieren, in dem eine ganze Gruppe eben das, was die westliche Zivilgesellschaft ausmacht, für Teufelswerk hält?
    Tatsächlich ist die Mitgliedschaft der Türkei in der EU zum gegenwärtigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Eine für die Öffnung nach Europa nötige grundlegende Demokratisierung und Säkularisierung der türkischen Gesellschaft scheint in weiter Ferne zu liegen, bei der Mehrheit der Bevölkerung dürfte sie auch auf wenig Resonanz stoßen. Eine Kompromisslösung, wie die von der CD U vorgeschlagene »privilegierte Partnerschaft«, lehnt Erdogan ab. Dabei kann das Ergebnis der Beitrittsverhandlungen, sollen diese nicht in einer großen Frustration enden, nur dort oder in einer »abgestuften Integration« liegen, die der Türkei die Zeit gibt, die gesellschaftlichen Reformen anzupacken, und der Union die Möglichkeit, die schrittweise Eingliederung von dem Fortschritt solcher Veränderungen abhängig zu machen. Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung hat dieses Modell bereits 2005 entwickelt. 112
› Hinweis Es formuliert über die Kopenhagener Kriterien hinaus Bedingungen und Einschränkungen der Integration, entwickelt aber auch Anreize für eine Gesellschaftsreform.

Die infantile Gesellschaft
    Ich bin gegen den Zwang zur Ehe, bei jungen Leuten wie bei Staaten. Für mich ist die türkische Braut noch nicht im heiratsfähigen Alter. Sie steckt noch mitten in der Pubertät, mit all den bockigen Verweigerungen und infantilen Regressionswünschen, die man aus dieser Phase kennt. Sie erinnert mich an die ängstliche Braut, einerseits voller Vorfreude auf all die Geschenke, die sie erhalten wird, andererseits voller Angst vor den Zumutungen, die ihr von dem Mann drohen.
    Auch die Europäische Union hatte sich nach dem Scheitern des Verfassungsprozesses eine Zeit des Nachdenkens über die eigenen Möglichkeiten verordnet. Sylvie Goulard resümiert ihre Überlegungen zum EU-Beitritt der Türkei so: »Die Europäische Union ist, objektiv betrachtet, nicht in der Lage und wird es auch in zehn oder zwölf Jahren nicht sein, die Türken aufzunehmen … Es ist nicht einfach, den Türken zu sagen, dass wir uns geirrt haben.« Aber »seinen eigenen Schwächen aus dem Wege zu gehen, so zu tun, als sähe man nicht das Desaster, das sich abzeichnet, weiterversprechen, was nicht einzulösen ist, wäre … unverantwortlich«. 113
› Hinweis
    Man muss gar nicht für oder gegen einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union sein. Es würde genügen, sich zu einem Entschluss durchzuringen: Die Heirat wird verschoben – zum Nutzen beider Parteien.
    Die Türkei hat sich immer noch nicht von den Autoritäten emanzipiert, weder vom Übervater Atatürk, noch vom Propheten. Sie setzt nicht auf mündige Bürger, sondern auf »die Nation«. Sie duldet einen »Staat im Staate«, das Militär, das wie der große Abi, der die Ehre seiner Schwester kontrolliert, eifersüchtig über jede Veränderung wacht. Sie weigert sich, die Erblasten der Vergangenheit aufzuarbeiten, ihre Traumata zu bearbeiten und sich für das von ihr begangene Unrecht zu entschuldigen. Sie stellt den Gehorsam höher als die Verantwortung, das Kollektiv über den Einzelnen; sie ist nicht wirklich dialogfähig – auf Kritik, Ironie oder Spott reagiert sie beleidigt oder gewalttätig; die, die anderen
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