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Bittere Pille

Bittere Pille

Titel: Bittere Pille
Autoren: Andreas Schmidt
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mehr zu gelten, und beinahe
hätte er sich über diesen Umstand gefreut. Doch irgendwas
tief in ihm sagte, dass er sich darüber lieber nicht freuen
sollte.
    Er war
schwerelos.
    Das Letzte, was er
hörte, war das Gerät, das seinen Pulsschlag maß.
Das monotone Fiepen war einem durchgehenden, hellen Pfeifen
gewichen.
    Er hatte soeben seinen
eigenen Tod erlebt.
    *
    Hohl klangen ihre
Schritte von der Decke und den gefliesten Wänden zurück.
Lange Schatten begleiteten sie und schienen nach ihr greifen zu
wollen. Der Flur war endlos. Immer wieder warf sie panische Blicke
über die Schultern. Verlassen lag der Gang da. Weiter. Sie
hatte keine Ahnung, in welchem Teil der Klinik sie sich befand,
wusste nur, dass sie sich in den Katakomben unter der Erde bewegte.
Eine Tür rechts. Sie drückte die Klinke. Abgeschlossen.
Also weiter.
    Sie hetzte über
den Gang. Immer wieder zweigten rechts und links Türen ab,
doch alle waren verschlossen. Irgendwann fand sie eine Tür,
die nachgab. Nach einem letzten Blick nach hinten schlüpfte
sie in den dunklen Raum. Die rechte Hand glitt suchend über
die Wand. Dann fand sie den Lichtschalter, betätigte ihn und
drückte die Tür zu. Grelles, kaltes Neonlicht flackerte
auf, und sie blinzelte. Auf dem kahlen Gang hatte nur die Notbeleuchtung
gebrannt.
    Nachdem sich ihre
Augen an das Licht gewöhnt hatten, blickte sie sich um. Sie
befand sich in einem vielleicht drei mal drei Meter großen
fensterlosen Raum, der offenbar als Abstellkammer genutzt wurde. In
den verrosteten Blechregalen lagerten antiquarisch anmutende
medizinische Instrumente, die nichts mit moderner Klinikausstattung
zu tun hatten und eher an Foltergeräte als an Hilfsmittel
erinnerten. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf den Instrumenten
abgesetzt. Die Luft hier unten war stickig. Sie schluckte trocken.
Nachdem sich ihr Pulsschlag ein wenig beruhigt hatte, zog sie das
Handy aus der Kitteltasche. Während sie es einschaltete,
betete sie, dass sie hier unten Netzempfang hatte.
    Nach einer
gefühlten Ewigkeit erschien endlich das Betreiberlogo ihres
Anbieters auf dem kleinen Display. Die Anzeige für den
Netzstatus blieb bei einem einzigen Balken hängen, und sie
hoffte, dass es für einen Anruf reichte. Mit zitternden
Fingern tippte sie die Nummer ein, die ihr in den letzten Tagen
immer wieder durch den Kopf gegeistert war. Bislang hatte sie
jedoch gezögert, die Nummer zu wählen.
    Freizeichen. Doch die
Verbindung war schlecht, das Tuten schepperte und kratzte ihn ihrem
Ohr, und sie hoffte, dass er sie verstehen konnte, sobald die
Verbindung zustande gekommen war. Dann endlich meldete er sich mit
einem sachlichen: »Ja?« Er klang distanziert,
kühl.
    »Gilt Ihr
Angebot noch?« Ihre Stimme zitterte, sie presste das Handy
verkrampft ans Ohr und lauschte. Sie sprach leise, wollte nicht,
dass sie in dieser Kammer hier unten gefunden wurde.
    Er zögerte einen
Augenblick, dann hatte er ihre Stimme erkannt.
»Natürlich. Ich habe Ihnen fünftausend versprochen,
wenn Sie meine Fragen beantworten.«
    »Dann sollten
wir uns treffen. Soeben war ich bei einem dieser…
Experimente dabei.« Sie zögerte. »Ich habe
miterlebt, wie ein Mann starb.« Das, was sie
eben erlebt hatte, hätte sie sich in ihren schlimmsten
Träumen nicht auszumalen gewagt. Dahlhaus war tot. Sie hatte
an seinem Bett gestanden, als sein Körper die Funktion
eingestellt hatte wie eine Maschine, der man ein wichtiges
Ersatzteil einfach entfernt hatte. Es war ihr vorgekommen, als habe
er sie verstehen können, obwohl er keinerlei Reaktion mehr
gezeigt hatte. Lediglich der Körper hatte funktioniert; nicht
mehr im Einklang mit der Seele und dem Bewusstsein. Allein der
Gedanke, das miterlebt zu haben, jagte ihr einen Schauer über
den Rücken. Wie musste man sich fühlen, wenn man bei
Bewusstsein war und dennoch für tot gehalten wurde?
    Jetzt fragte sie sich,
warum sie nicht eingeschritten war. Beruflicher Leistungsdruck,
Existenzängste, Überlebenskampf im Alltag, schlicht und
ergreifend die Angst, den Job zu verlieren und bei null anfangen zu
müssen? Als alleinerziehende Mutter, die sich gerade eine
berufliche Existenz aufgebaut hatte? Stand das alles im
Verhältnis zu der Tatsache, anwesend gewesen zu sein, als man
am Patienten ein tödliches Experiment durchgeführt hatte?
Nie zuvor war sie sich so egoistisch und schlecht vorgekommen. Es
war an der Zeit zu handeln.
    Menschenverachtend war
mit dem Leben des Kranken gespielt worden. Der Mann hatte
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