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Biss der Wölfin: Roman

Biss der Wölfin: Roman

Titel: Biss der Wölfin: Roman
Autoren: Kelley Armstrong
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mehr zu schaffen als die Opfer möglicher Wolfsattacken.
    »Dann mache ich mich wohl auf den Weg nach Alaska«, sagte ich. »Soll ich Clay anrufen und ihm Bescheid sagen?«
    »Ich erledige das, und ich buche dir einen Flug. Besorg du dir inzwischen irgendwas zu essen. Und versuch, dich zu entspannen.«

    Unglückseligerweise bestand kein großer Bedarf an Flügen von Pittsburgh nach Anchorage; das Flugzeug, das Reese genommen hatte, war die einzige Direktverbindung in vierundzwanzig Stunden. Ich musste nach Phoenix fliegen und dort umsteigen.
    Der Flug und der kurze Zwischenaufenthalt gaben mir Zeit zum Nachdenken – zu viel davon. In der vergangenen Woche waren zwei Dinge passiert, über die ich mit Clay reden wollte, Vorfälle, die sich für ein Telefongespräch nicht eigneten. Vorfälle, die mir nachgingen, wann immer ich etwas Zeit zum Entspannen und Ausruhen hatte – vermutlich ein weiterer Grund dafür, dass ich Reese immer weiter verfolgt hatte, obwohl der gesunde Menschenverstand mir riet, ihn in Frieden zu lassen.
    Der erste davon … okay, ich machte mir Gedanken darüber, aber es hatte nicht die gleichen Auswirkungen auf mich wie der zweite. Dieser war der eigentliche Tiefschlag gewesen, der Grund dafür, dass ich ruhige Momente wie diesen zu vermeiden versuchte. Jeremy und ich hatten im Arbeitszimmer vor dem Kamin gesessen, nachdem die Kinder im Bett waren, und den ruhigen Abend genossen. Er hatte einen Roman gelesen; ich hatte meine Post durchgesehen, die meist tagelang ungeöffnet herumlag und sich dabei zu Stößen auftürmte.
    Hätte ich gewusst, von wem der Brief stammte, dann hätte ich ihn ungelesen ins Kaminfeuer geworfen. Doch er war mir über meine alte Universität vermittelt worden und steckte dementsprechend in einem Umschlag der University of Toronto; den zweiten Umschlag im Inneren hatte ich geistesabwesend zusammen mit dem Äußeren aufgeschlitzt.
    Es war ein Brief von einem der Männer, die mich in meiner Kindheit zu sich genommen hatten. Das Wort Pflegevater werde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden – das würde ihm einen Platz in meinem Leben einräumen, den er nicht verdient.
    Ich war nach dem Tod meiner Eltern durch viele Familien gegangen. Ich glaube, wenn die potenziellen Mütter mich sahen – das stille Mädchen mit den großen verschreckten Augen –, dann sahen sie nicht etwa eine vorübergehende Unterbringung, sondern ein Kind, das sie retten und zu ihrem eigenen machen konnten. Wenn ich mich ihnen dann nicht öffnete, wenn ich nicht zu der vollkommenen, liebenden Tochter wurde, nach der sie sich sehnten, dann gaben sie mich zurück.
    Dass ich blond und blauäugig war, hatte es mit sich gebracht, dass ich außerdem die Aufmerksamkeit einer weniger altruistischen Sorte von Pflege»vätern« und »-brüdern« erregte. Meist war es nicht mehr als ein kurzer Blick im Badezimmer oder eine Hand, die zu lang auf meinem Bein liegen blieb. Manchmal jedoch war es Schlimmeres, vor allem bei dem Mann, der mir den Brief geschickt hatte.
    In dem Brief erklärte er mir, dass er wegen seines Problems mittlerweile eine Therapie machte. Es tat ihm leid, was er mir angetan hatte, und sein Therapeut war der Ansicht, dass er es mir mitteilen sollte, schon als Teil des Heilungsprozesses. Sich entschuldigen und mich um Verzeihung bitten.
    Ich war vom Sofa aufgestanden, zum Kamin gegangen und hatte den Brief ins Feuer fallen lassen. Jeremy hatte mit einem leisen »Elena?« von seinem Buch aufgeblickt, aber ich war aus dem Zimmer marschiert, bevor er eine Frage stellen konnte.
    Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen »und das war’s«. Herrgott, wie ich mir wünsche, das sagen zu können. Aber das war es nicht, und der einzige Mensch, mit dem ich darüber hätte reden können, war nicht da! Deshalb gärte der Brief – jedes einzelne verdammte Wort darin – in meinen Gedanken vor sich hin. Bevor ich ihn gelesen hatte, war ich wegen Clays Abwesenheit etwas aus der Spur gewesen. Danach hatte ich den Eindruck, halb blind durch meine Tage zu stolpern, wild entschlossen auf das fixiert, was ich gerade trieb, sei es nun das Frühstück für die Kinder oder die Verfolgung von Reese. Ich wagte nicht innezuhalten, weil ich wusste, das Innehalten würde nur die Erinnerungen und Ängste und die Rage zurückbringen, von denen ich geglaubt hatte, sie vor langer Zeit besiegt zu haben.
    Nicht wirklich besiegt, so wie es jetzt aussah. Einfach nur in eine Art willentliches Vergessen gezwungen. Und
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