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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst
Autoren: Friederike Schmöe
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stand auf und ging davon. In der Küche hörte ich sie rumoren, dann kam sie mit einer Flasche Prosecco und zwei Gläsern zurück.
    Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. »Macht es Ihnen was aus, wenn wir ein bisschen frische Luft reinlassen?« Mir klebte das T-Shirt am Leib.
    »Aber absolut nicht.« Irma Schwand lächelte. »Ja, mit dieser Diagnose muss ich nun leben. Ich bin dabei, meine Sachen zu ordnen. Muss mir überlegen, was noch getan sein will und was nicht. Aber diese Geschichte will ich noch loswerden. Es ist eine alte Geschichte. Ich bin Jahrgang 1927, das war eine ganz dumme Zeit, um geboren zu werden. Infiltriert von dem ganzen Nazimist schleppten wir uns durch unsere Jugend. Als es vorüber war, war ich 18, und alles war kaputt.« Sie seufzte. »Zum Wohl, trinken wir!«
    Ich hob mein Glas. Die Stimmung musste passen, die Kundin sich entspannen, Zunge und Gedächtnis mussten gleichermaßen gelöst ihre Arbeit verrichten. Um Irma Schwand nicht am Warmwerden zu hindern, schwieg ich und sah ihr zu. Ihre von dicken Adern durchzogenen kleinen Hände konnten nicht stillhalten. Unaufhörlich tasteten sie über das Kleid, die Tischplatte, zupften an dem Etikett auf der Proseccoflasche. Alzheimer. Wie zurechnungsfähig war sie?
    »Dass etwas mit meinem Gedächtnis nicht stimmt, merkte ich, weil ich immer wieder Dinge vergesse, die ich mir gerade noch vorgenommen habe«, sagte Irma. »Inzwischen habe ich mich in einem Seniorenheim angemeldet, für den Fall, dass ich zu schnell abbaue und nicht mehr zurechtkomme. Meine Tochter lebt in den USA mit einer meiner Enkelinnen. Die zweite, Julika, wohnt in Landshut. Für sie ist diese Geschichte, die ich Ihnen nun erzählen will.«
    Ich nickte.
    »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.«
    »Habe ich Angst vor Ihnen?«
    »Es ist nicht so, dass ich unzurechnungsfähig bin. Es ist nur … ich verliere leicht den Faden. Werde nervös, so wie jetzt, aber das liegt an Ihnen und Ihrem Gerät da.« Sie lachte. »Immerzu suche ich meinen Schlüssel. Deswegen habe ich ihn nun ständig in der Tasche.« Sie tastete über ihr Kleid. »Aber er ist nicht da!«
    Das Erschrecken in ihrem Gesicht entsetzte mich. »Sollen wir Ihren Schlüssel suchen?«
    »Ach, ich weiß.« Sie streifte den Ärmel hoch. Auf ihrem bläulich schimmernden Unterarm standen Wörter, Zahlen, einzelne Buchstaben. Der ganze Arm war beschrieben. »Julikas Telefonnummer«, sie deutete auf eine Kolonne Ziffern, »die meiner Hausärztin. Was war noch mal …« Ihr rechter Zeigefinger fuhr zögernd über eine andere Notiz.
    »Frau Schwand«, sagte ich halblaut, »wir wollten doch über diese Geschichte sprechen, für die Sie mich bezahlt haben.«
    Irmas Blick kehrte zu mir zurück und verwandelte sich von Ratlosigkeit in ein überschwängliches Lächeln. Ich bekam das Gefühl, sie spielte mir etwas vor. Sie nahm die Flasche, wollte mir eingießen, stutzte, als sie sah, dass mein Glas noch fast voll war.
    »Sie trinken ja nichts.«
    Mir klebte die Zunge am Gaumen, und die Kasnudeln bildeten einen Klumpen in meinem Magen. Aber darauf kam es nicht an. Ich nahm einen Bleistift in die Hand, setzte ihn aufs Papier, schrieb ›Irma Schwands Geschichte‹, lehnte mich zurück und wartete.

3
    Irma sieht der Frau nach, die ihren Pferdeschwanz energisch in den Nacken wirft. Sie schleppt eine schwere Tasche mit sich herum. Langsam tastet Irma über ihren Unterarm. Sie schiebt den Ärmel des Kleides hoch und besieht sich ihre Notizen. Hört ihren Lateinlehrer. ›Irma, repetiere Lektion 3!‹ Sie lächelt. Warum fällt ihr das jetzt ein? ›Irma, repetiere!‹ Automatisch sondert ihr Gedächtnis den Beginn von Cäsars ›De bello Gallico‹ ab. Gallia omnis divisa est in partes tres . Also funktioniert es doch noch. Sogar das ungeliebte Latein ist in ihrem Gehirn hängen geblieben! Sie glaubt der Diagnose ihres Arztes nicht. Julika hat ihr Bücher über Demenz besorgt, aber Irma rührt sie nicht an. Als könne sich die Krankheit aus den Büchern heraus auf sie übertragen.
    Es gibt viel zu vergessen. Aber sie schafft es nicht, das eigentlich Schlimme aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie geht vom Fenster weg und räumt die Gläser und die Flasche in die Küche. Gießt den warm gewordenen Prosecco in die Spüle.
    Wo Julika nur bleibt.
    Ohne Julika fühlt sie sich leer und einsam. Obwohl sie all die Jahre allein gelebt hat – seit Julika in Landshut aufgetaucht ist, schmerzt jede Stunde der Einsamkeit, die sie in ihrer Wohnung
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