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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst
Autoren: Friederike Schmöe
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verbringt.
    Irma nimmt ihr Handy. Sie hat es zur Vorsicht, nur um nicht verloren zu gehen. Die einzige gespeicherte Nummer ist Julikas. Sie könnte bei ihren Freundinnen vorbeischauen. Wie weit wohl die Vorbereitungen gediehen sind? Seit sie vor langer Zeit aus den USA zurückgekehrt ist, hat sie bei den Förderern der Landshuter Hochzeit mitgewirkt. Die Aufgabe, das Fest mitzutragen, Verantwortung zu übernehmen, war ihr mehr Heimat als die Stadt selbst.
    Was ist Erinnerung?, denkt Irma. Ich bin so alt geworden. So alt. Und andere sind so jung gestorben. Lisa zum Beispiel. Mit gerade mal 19 Jahren.
    Dabei ist Lisa in Irmas Herzen unsterblich. Sie ist stets gegenwärtig. Ewig jung und zart, schön wie ein Sommerabend. Lisa hätte so wie Julika gut zu den Spielleuten gepasst.
    Irma konzentriert sich. Sie sucht ihren Schlüssel, findet ihn schließlich innen im Schloss der Haustür stecken. Vielleicht entdeckt sie Julika, wenn sie bei den Spielleuten vorbeischaut. Irma weiß, wo sie sich vor der Hochzeit tummeln, alle ein bisschen aufgeregt, aber fröhlich, heiter, wie Spielleute sein sollen. Sie mag die Vorführungen der Gaukler und Feuerschlucker, die Kampfszenen, die die sangesfreudigen Reisigen und die Reiter vorführen. ›Himmel Landshut – tausend Landshut‹, denkt Irma, als sie die Tür hinter sich zuschließt. Nein, sie vergisst nicht. Sie trägt schwer an ihrer Schuld. Aber die vergisst sie nicht.

4
    Aber ja, mein Täubchen. Natürlich weinst du, wie alle hier weinen, wenn sie denken, dass niemand hinhört. Ein paar Minuten weinen, das können wir uns leisten, nicht wahr? Ein paar Minuten Trauer um all die Toten, die Sterbenden, die Verlorenen. Wir sind alle verloren, glaub mir, Lisa. In unserer Baracke haben wir es gut. In der ländlichen Einöde fallen keine Bomben, und zu essen gibt es auch noch das ein oder andere. Dünn sind wir alle, aber zäh wie Katzen, nicht wahr?
    Oder weinst du, weil dein Glück zerbricht? Weil du besonders inbrünstig gesungen hast am Feuer? Weil du nicht glaubst, dass der Frühling da draußen das Ende des Tausendjährigen Reiches einläutet? Ha! Das hätte ich dir schon vor Jahren sagen können, dass es zu Ende geht, aber du wolltest nichts davon hören, und bevor du mich verpfeifst, wirst du verstehen, Täubchen, dass ich die Klappe gehalten habe. Die Welt da draußen folgt ihren Gesetzen, da kannst du nichts dran drehen, da hilft alles reden nicht.
    Natürlich weinst du und weinst, und ich sitze neben dir auf der Pritsche, ganz unten im Stockbett, und halte dich in den Armen, spüre deine Tränen durch mein Nachthemd sickern. Du machst mich ganz nass, Lisa. Schluchze nicht so laut, die anderen werden wach. Und besonders die ordinären Witze von einigen Mädchen aus unserer Kameradschaft, die erträgst du nicht. Ich höre einfach nicht mehr hin, wenn sie in ihrem schauderhaften Dialekt eine Zote nach der anderen reißen.
    Frierst du, Lisa? In den Baracken ist es ständig kalt, sogar noch im Frühling. Der Ofen in der Mitte hält die Wärme nicht, und viel Holz haben wir nicht, da muss man hartgesotten sein. Im Winter haben wir manchmal Bretter aus den Stockbetten zum Anheizen genommen und die verbliebenen Latten einfach verschoben.
    Dein Nachthemd ist zu dünn und zu kurz. Du bist zu lang geworden, du schießt in den Himmel, Lisa, meine hübsche Rakete. Nicht weinen. Ja, drück dich nur an mich, so ist es gut. Ich bin immer warm, nicht? Mein Körper erzeugt stets die richtige Temperatur. Wärme, wenn Bewegung und Handeln angesagt sind. Kühle, wenn ich abwarten muss. Wie eine Schlange. So habe ich überlebt, weißt du. Und indem ich vergesse. Ich vergesse, was ich nicht behalten will.
    Du sagst, niemand könne beschließen, etwas aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Aber ich kann das! Deswegen lebe ich noch und bin gesund. Ich bin stark, und das weißt du, deswegen kuschelst du dich an mich, als wäre ich deine Mama. Lisa, Lisa. Armes Mädchen. Jetzt, wo alles zusammenstürzt, was dir wichtig war! Wo so viele tot sind, gestorben für diese eine Sache … von der ich nichts halte, wirklich, aber im Schlafsaal werde ich das garantiert nicht laut aussprechen. Niemals werde ich das aussprechen. Ich habe Englisch in der Schule gelernt, weißt du, und wenn die Amerikaner kommen, dann habe ich schneller eine Arbeit, als irgendjemand schauen kann. Armes, armes Täubchen. Lisa.
    Was wirfst du mir da vor? Ich sei hart? Aber nein. Ich werde wie eine Zikade aus meiner Hülle schlüpfen,
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