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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge
Autoren: Richards Emilie
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verwirrenden Mischung aus Intelligenz und Sinnlichkeit war sie etwas ganz Besonderes. An Belinda gefiel Phillip einfach alles, und deshalb verbrachte er immer mehr Zeit in New Orleans.
    An einem frühen Samstagabend im Februar verließ Phillip Belindas Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Belinda war seit dem Morgen unterwegs. Er hatte den Tag über seine tragbare Schreibmaschine gebeugt verbracht – mit einer Hand tippend, in der anderen die Tasse mit Getreidekaffee. Er war freischaffender Journalist. Und solange er „frei“ nicht wörtlicher verstehen wollte als unbedingt nötig, musste er sich genauso an geregelte Arbeitszeiten halten wie jeder andere auch.
    Die Sonne hatte schon beinahe den Horizont erreicht. Überrascht stellte er fest, dass die Abendluft jedoch noch immer warm war und den verheißungsvollen Duft des nahenden Frühlings mit sich trug. Regenwolken ballten sich zusammen, und der Sonnenuntergang würde ein beeindruckendes Schauspiel werden.
    Ursprünglich stammte Phillip nicht aus New Orleans. Als Kind hatte er sich zu Mardi Gras nie verkleidet und auch keine der Schulen besucht, in denen noch strikte Rassentrennung herrschte. Er hatte keine Erinnerung an erste Zigaretten oder erste Küsse, die ihn mit Nostalgie erfüllt hätten. Aber ab und zu gelang es dieser Stadt dennoch, ihn einzufangen und zu fesseln, auch wenn er noch so sehr versuchte, seine journalistische Objektivität zu wahren.
    Die Neugierde hatte manchmal eine ähnliche Wirkung auf ihn. Heute hatte ihn die Neugierde in Form eines Telefonanrufs gepackt und geschüttelt, bis er das Gefühl gehabt hatte, sein gesunder Menschenverstand wäre ihm dabei abhandengekommen. Doch was auch immer geschehen mochte – er war auf dem Weg, es herauszufinden.
    Phillip fuhr rückwärts mit dem Wagen von Belindas Auffahrtund lenkte ihn dann Richtung Garden District. In dem kurzen Telefonat hatte Aurore Gerritsen ihm genaue Anweisungen gegeben, wie er ihr Haus finden konnte. Er befolgte diese Anweisungen nun, während er über den Rest ihrer Unterhaltung nachdachte.
    Aurore Le Danois Gerritsen, Hauptanteilseignerin von Gulf Coast Shipping, Mutter von Senator Ferris Lee Gerritsen und Tochter einer Familie, deren Blut so blau war wie die Flagge von Louisiana, wollte, dass er ihre Lebensgeschichte aufschrieb.
    Der Horizont war in ein wundervolles sonniges Gold getaucht, als Phillip schließlich in der Nähe der Prytania Street parkte. Vor Aurore Gerritsens Haus wäre genug Platz gewesen, um den Wagen abzustellen – mehr als genug, wenn man bedachte, dass ihr Grundstück fast die Ausmaße eines Footballfeldes hatte. Aber er wollte die Gegend kennenlernen, wollte das Umfeld erkunden, das seinen Teil dazu beigetragen hatte, sie zu der Frau zu machen, die sie heute war.
    Die Häuser, an denen er vorbeikam, während er die zwei Blocks bis zum Anwesen der Gerritsens spazierte, waren im italienischen oder neoklassischen Baustil gehalten. Dazwischen standen die typischen Landhäuser auf Pfählen; sie prägten seit Jahrhunderten das Bild der Stadt. Ein paar der Bauten konnten durchaus als Herrenhäuser bezeichnet werden. Mit Moos bewachsene VirginiaEichen, die schon seit dem Bürgerkrieg dort standen, ächzten und knarrten in der Abendbrise. Magnolien warteten geduldig auf die Tage im späten Mai, wenn ihre Blüten die Stadt mit ihrem Duft erfüllen würden.
    Er sah Swimmingpools und blank polierte Cadillacs. Da Karnevalssaison war, wehte an zwei Veranden die begehrte Flagge des Rex; nur wer selbst schon einmal Karnevalskönig gewesen war, durfte sie hissen.
    Falls hier Schwarze lebten, waren sie Haushälter oderDienstmädchen, die sich in Sommernächten in ihren stickigen Zimmern unter dem Dach kühle Luft zufächelten.
    Als Phillip die Prytania Street erreichte, war er sich bewusst, dass seine Anwesenheit nicht unbemerkt geblieben war. Er war nicht wie ein Gärtner oder Anstreicher angezogen. Er trug einen dunklen Anzug und eine unaufdringliche Krawatte und ging auf Aurore Gerritsens Eingangstür zu.
    „Hey, Boy!“
    Phillip spielte mit dem Gedanken, den Ruf nicht zu beachten. An jedem anderen Tag hätte er das auch getan, doch hier ging es auch um eine Recherche. Er drehte sich um und musterte den alten Mann, der nach ihm gerufen hatte, knapp von Kopf bis Fuß.
    Der Mann war blass und so knorrig wie der Stamm einer Zypresse. Er hatte einen Seersucker-Anzug an, der südlich der Mason-Dixon-Linie, der traditionellen kulturellen Grenze zwischen Nord- und
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