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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma
Autoren: Brigitte Blobel
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Herbie hätte sich bestimmt darüber gefreut, obwohl er ja nie fernsieht, weil er immer in seinem Kiosk steht. Aber er hätte sich gefreut. Marvel ist nicht sicher, ob er irgendjemanden kennt, der sich mehr freuen würde als Onkel Herbie. Seine Mutter? Wer weiß. Sein Vater? Nee. Irgendwie ist Onkel Herbie mehr Familie.
    Aber Marvel sagt trotzdem nichts, weil Onkel Herbie an diesem Tag keinen Sinn für die Probleme oder die Freuden seiner Kundschaft hat. Sie haben ihm den Strom abgestellt!

    Wenn er kein kaltes Bier oder keine anderen eisgekühlten Getränke mehr anbieten kann, werden viele Kunden sich wohl umorientieren. Das spürt er, das weiß er, das würde er, wenn er noch Biertrinker wäre, genauso machen. Aber Onkel Herbie trinkt kein Bier, auch keine harten Sachen. Onkel Herbie ist Mitglied bei den Anonymen Alkoholikern.
    »Ich hab früher so viel gesoffen, dass es fürs ganze Leben reichen muss«, sagt er immer, wenn ihn jemand fragt. Er gönnt sich nicht mal eine Cognacbohne oder ein mit Eierlikör gefülltes Osterei, weil er sagt, dass er danach sofort wieder rückfällig werden würde. Onkel Herbie hat seine schöne Gastwirtschaft an der Ostsee wegen seiner Alkoholsucht verloren, auch seine Frau, seine Kinder und das Kajütboot, von dem aus er Dorsche geangelt hat. »Ich war mein bester Kunde«, sagt Onkel Herbie immer. »So was ist das Ende für jeden Wirt.«
    Er trinkt nicht mehr, aber er guckt gern zu, wie andere trinken. Er sitzt zwischen den Jungs auf der Bierbank, das Holzfällerhemd hochgekrempelt bis zum Tattoo auf dem Bizeps, darüber eine wattierte Weste. HL sitzt zu seinen Füßen und wedelt bei jedem Wort. Alle haben Onkel Herbie verlassen, nur HL nicht.
    »Ich hab vorhin einen Satz gelernt«, sagt Jojo, der etwas sucht, womit er Onkel Herbie aufheitern kann, »den schenk ich dir.«
    »Na, dann spuck mal aus.« Onkel Herbie legt seine Arme um Jojos magere Schultern. Jojo ist dünn wie ein Schilfrohr im Wind.
    »Ist aber auf Latein.«
    »Ach so.«
    Natürlich muss er den Satz trotzdem sagen.
    » Meum est propositum in taverna mori.«
    »Und was heißt der Quatsch?«, fragt Onkel Herbie.
    Jojo grinst. »Mein Vorsatz ist es, in der Taverne zu sterben.«

    Dann überlegen sie, wie dieser Satz wohl auf Lateinisch geht: Mein Plan ist es, in DEINER Taverne zu sterben, mein Freund.
    Der fünfundsiebzigjährige Onkel Herbie beobachtet die Jungs aus seinen kleinen traurigen Augen. »Ach Jungs, ihr seid großartig. Das klingt toll. Aber euer Herbie hat das Gefühl, dass aus diesem schönen Plan nichts wird. Die Kerle meinen es ernst.«
    Sie starren düster auf das schöne Haus mit den weißen Säulen. Da wohnt der Feind.
    Bully, der miese Stimmung nur schwer erträgt, hebt seine leere Flasche und ruft trotzig: »Am Mittag zwei Bier und der Tag gehört dir!«
    Marvel wehrt ab. »Hey Mann, du spinnst. Ein Bier reicht.«
    »Jawohl!«, sagt Bully. »Zwischen Leber und Milz passt immer ein Pils!«
    Alle gucken Marvel erwartungsvoll an. Herbie auch. Jeder weiß: Einer muss noch kommen.
    Und so sagt Marvel: »Begrabt meine Leber am Ende der Theke«, und dann highfiven sie sich. Und die Welt ist schön.
     
    Zu Hause wartet seine Mutter mit dem Mittagessen. An der Schrankwand in der Küche hängt Marvels Stundenplan. So weiß sie immer, wann Marvel aus der Schule kommt. Marvel findet das ätzend, er findet, so was muss spätestens nach der sechsten Klasse aufhören, aber weil seine Mutter berufstätig ist und sich auf jede Minute freut, die sie mit ihrem Sohn verbringt, kann er ihr das nicht abgewöhnen.
    Heute ist Mittwoch und sie weiß, dass er nach der sechsten Stunde freihat. Seit einer Stunde ist der Tisch gedeckt, seit einer Stunde liegen die panierten Schnitzel unter einer Klarsichtfolie neben dem Herd und der Salat sieht bereits matschig aus.
    »Marvin!«, ruft seine Mutter aus dem Bad, als er die Wohnungstür öffnet. »Bist du das endlich?«

    »Wer sonst?«, knurrt Marvin. Er und seine Mutter wohnen allein in dieser Dreizimmerwohnung. Niemand sonst hat einen Wohnungsschlüssel.
    Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, im Bad rauscht die Wasserleitung. Marvin würde jetzt gern als Erstes ins Bad gehen, um mit Mundwasser zu gurgeln. Das hat er sich angewöhnt, seit er hin und wieder ein Bierchen kippt. Seine Mutter kommt nämlich manchmal noch auf die Idee, ihn zur Begrüßung zu küssen, so wie früher, als er klein war. Und sie hat eine feine Nase.
    Aber jetzt ist seine Mutter im Bad, also lässt er sich
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