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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht
Autoren: Karl Heinz Brisch
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Verlust des Arbeitsplatzes und sozialer Kontakte. Schulden und Gerichtsverfahren kommen oft noch hinzu, so dass die Therapie aufgrund der zahlreichen »Baustellen« mit einer komplexen Problematik konfrontiert ist. In der Therapie ist es daher ähnlich wie bei einer Behandlung von »Verbrennungsopfern«: Es gibt viele wunde Stellen, bei denen die »heile Haut« als Schutz infolge der Traumatisierungen verloren gegangen ist. Die vielen Verletzungsstellen der Seele müssen gleichzeitig betrachtet und beachtet werden; ich gebrauche hier gerne den Begriff der »Vier-Zügel-Therapie«. Damit meine ich, dass man in der Therapie immer alle vier Bereiche, nämlich
die Bindungsprozesse,
die traumatischen Erfahrungen,
das Suchtverhalten und zudem
die psychosozialen Probleme
    im Auge behalten muss; an diesen vier Bereichen müssen Interventionen und Veränderung, muss die Arbeit mit Suchtpatienten gleichzeitig ansetzen.
    Jedes Ansetzen an einem Fokus, z. B. an den Bindungserfahrungen, aktiviert gleichzeitig immer auch die Defizite und stressvollen Erfahrungen, wie sie etwa mit frühen Verlusterfahrungen verbunden sind, lässt somit also oft traumatische Erlebnisse wieder aufleben. Damit steigt erneut der Suchtdruck. Das Suchtmittel zu entziehen aktiviert Bindungs-, Trennungs- und Verlusterfahrungen und führt zu großem Stress. Weil traumatisierte Menschen sich im Stress nicht mehr normal verhalten, reagieren sie über, laufen davon, rasten aggressiv aus, verfolgen andere Menschen suchtartig (»stalken«). All dies führt wiederum dazu, dass Menschen sich in Retraumatisierungen hineinbegeben oder diese unbewusst aktiv inszenieren, und es entstehen zu allem Unglück als Folge oft auch noch größere psychosoziale Probleme.
    Eine isolierte Arbeit in Bezug auf einen Bereich ist also nicht möglich, sondern es sind immer alle Bereiche betroffen; das macht die Arbeit mit Suchtpatienten so kompliziert und schwierig.
Die Gegenübertragung von Therapeuten beim Aufbau einer Bindung zu Suchtkranken
    Bei einer solchen »Vier-Zügel-Therapie« kommt es bei Therapeuten regelmäßig zu heftigen Gegenübertragungsgefühlen wie Abwertung, Ekel, dem Gefühl, betrogen und belogen zu werden, damit verbundenen Enttäuschungen, Wut, Angst, dem Impuls, den Patienten »rauszuwerfen« und die Therapie abzubrechen, sowie auch zu eigenem Suchtdruck. Einerseits sehen wir therapeutische Überidentifikationen mit den traumatischen Erfahrungen des Patienten, was zu einer sehr dichten, intensiven Verstrickung in der therapeutischen Beziehung führen kann, fast wie bei einer therapeutischen Co-Abhängigkeit; andererseits sehen wir auch, dass Therapeuteninnen und Therapeuten die traumatischen Erfahrungen und die Bindungsstörungen hinter dem Suchtverhalten komplett verleugnen oder ignorieren, so dass diese Themen in der Suchttherapie gar nicht zur Sprache kommen.
    In der Therapie mit suchtkranken Menschen wird es beim Vorliegen traumatischer Bindungserfahrungen absolut notwendig sein, mit aller Feinfühligkeit eine sichere therapeutische Bindung aufzubauen. Dies ist schwierig, weil suchtkranke Menschen oft sehr häufig und schon sehr früh – bereits in der Säuglingszeit – Deprivations- und Verlusterfahrungen erlitten haben. Nicht selten waren die Eltern selbst suchtkrank und in der verschiedensten Weise emotional nicht ausreichend für die Bedürfnisse und Signale ihres Kindes verfügbar. Der Aufbau einer solchen sicheren therapeutischen Bindung mit Suchterkrankten bedeutet daher, dass der Therapeut seine Gegenübertragung sehr gut wahrnehmen und auch steuern muss. Erforderlich ist eine große Intensität in der Beziehungsnähe bei gleichzeitiger Distanz. Dies scheint ein Paradox zu sein, bedeutet aber im Detail, dass es in Bezug auf die emotionale Präsenz sowie die Aufmerksamkeit notwendig ist, sehr nah beim Patienten zu sein, ohne ihm dabei zu sehr »auf die Pelle zu rücken«. Die Regulation von Nähe und Distanz- zwischen Therapeut und Patient vergleiche ich mit der Behandlung von Verbrennungsopfern. Es braucht eine gute Intensivversorgung, ohne dabei die »seelische Haut«, die an so vielen Stellen gleichzeitig durch frühe traumatische Verlust- oder etwa Gewalterfahrungen verbrannt und verletzt ist, zu sehr zu irritieren, weil an den Stellen, wo »offene Haut« ist, sprich: traumatische Verletzungen noch nicht verarbeitet sind, der seelische Schmerz extrem ist.
    Das Suchtmittel kann nur dann entzogen werden, wenn in der Therapie neue, intensive,
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