Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
Vom Netzwerk:
ins Leere gehen lässt, die der Aggression den Stachel nimmt. Wehren konnte sich die vorhin erwähnte Mutter zum Beispiel, indem sie sich zunächst wortlos zurückzog, aber später vor der Wiederaufnahme eines normalen Kontaktes mit ihrem Sohn eine Aussprache über das Vorgefallene verlangte. Mahatma Gandhi oder Martin Luther King waren bekanntlich leuchtende Vorbilder dafür, dass eine Leidbewältigung gelingen kann, ohne dass man entweder jede Erniedrigung einstecken oder auf die Ebene des Erniedrigers hinabsinken muss.
    Was ist das Plus eines friedlichen Widerstandes? Es ist die Chance, mehr zu erreichen als die Aufpolierung des eigenen angeknacksten Selbstbewusstseins, nämlich: eine Wandlung in der Gesinnung des feindlichen Gegenübers! Dass eine Aggression nicht zum Ziel führt, macht es dem Aggressor leichter, sie aufzugeben – doch dazu gesellt sich etwas, das weit überzeugender wirkt als nur Ineffektivität, und das ist das persönliche Zeugnis eines Menschen, der gegen Feindseligkeit immun ist, in dessen Herzen Feindschaft einfach keinen Platz hat. Nichts beschämt und belehrt so intensiv wie die „Liebe“ (Güte, Barmherzigkeit), die sich stärker als der Hass erweist.
    Zusammenfassend lässt sich sagen: Es ist unser gutes Recht, uns zu verteidigen. Trotzdem steht die Werteminderung, die wir durch eine Zurückweisung unserer Person erfahren, in keinem Verhältnis zu dem Wertezuwachs, den wir erzeugen können, wenn wir (über uns hinaus) die Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zwischen uns Menschen mit verteidigen; wenn wir uns wehren zum eigenen Wohl und zum Wohle jenes anderen, der uns angegriffen hat –
das
ist Leidbewältigung vom Feinsten.
    Bliebe noch die Frage zu klären, was man tun kann, wenn man sich nicht (mehr) wehren kann, weil der Aggressor unerreichbar ist? Hier ein kurzer Dialog aus meiner Beratungspraxis:
    70-jähriger Patient: „Mein Vater hat mich als Kind hart angepackt und manchmal auch verprügelt. Was hatte ich damals für eine Angst vor ihm!“
    Ich: „Haben Sie dies Ihrem Vater verziehen?“
    Er: „Ich habe nichts zu verzeihen. Im Großen und Ganzen war er ein guter Vater.“
    Ich: „Aber er hat Sie geängstigt und streng gezüchtigt. Haben Sie ihm dies verziehen?“
    Er: „Ich glaube, der konnte nicht anders. Mein Vater war ein jähzorniger Mann, der schnell aufbrauste, und ich war als Kind tollpatschig und langsam von Begriff. Das hat ihn genervt.“
    Ich: „Nein, so einfach ist das nicht. Ihr Vater mag jähzornig gewesen sein, aber er konnte immer noch entscheiden, ob er den Jähzorn an seinem kleinen Sohn ausließ oder nicht. Er konnte sich gewiss mehr beherrschen und hat eben manche Fehlentscheidung getroffen. Diese Fehlentscheidungen Ihres Vaters sollten Sie ihm jetzt verzeihen und so Ihre Kindheit rückblickend befrieden.“
    Er: „Meinen Sie? Wie soll ich das machen?“
    Ich: „Das nächste Mal, wenn Sie das Grab Ihres Vaters besuchen, sprechen Sie mit ihm. Sagen Sie etwa zu ihm: ‚Lieber Vater, ich danke dir für das Leben, das du mir gegeben hast, und für deine Sorge, die du mir angedeihen hast lassen. Leider warst du manchmal zu streng mit mir. Dein Zorn und deine Prügeleien waren nicht richtig. Darunter habe ich lange gelitten. Aber du sollst wissen, dass ich darüber hinausgewachsen bin, dass ich mein Leben gemeistert habe, und dass ich dir nichts mehr nachtrage.
Von mir aus
ist es gut, ich habe dir verziehen.‘“
    Der Patient befolgte meinen Rat und kam zutiefst erleichtert wieder. Er habe am Grab heftig geweint, erzählte er, aber nun sei sein Vater endlich „unter der Erde“, und „auf der Erde“ würden Blumen der Versöhnung blühen. Das in der Kindheit Erlittene brauche er ab sofort nicht mehr mit sich herumzuschleppen …

Die Vergänglichkeit des Lebens
    Wenden wir uns nun einem Schmerzbereich zu, den wir am liebsten verdrängen und tabuisieren: der Vergänglichkeit unseres Lebens. Die schlimmste „Zurückweisung unserer Person“ leistet sich Gevatter Tod. Erst werden wir ohne unsere Zustimmung ins Leben befördert, und dann, wenn wir uns einigermaßen im Leben eingerichtet haben, werden wir wieder sanft oder unsanft hinauskomplimentiert. Kann das Sinn haben? Es sieht so aus, als würde jemand gezwungen, ein Zimmer zu betreten, das er – kaum dass er sich darin umgesehen hat – wieder verlassen muss. Das klingt reichlich deprimierend. Wie aber, wenn etwas Wichtiges in dem Zimmer auf ihn warten würde? Wie, wenn es für ihn etwas in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher