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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern
Autoren: Elisabeth Lukas
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Ferne zuschauen. Aber sei gewiss, eines Tages wirst du im Haus deines Lebens die Blumen sehen, derentwegen du hier geblieben bist und die schwere Trennung von deiner Familie auf dich genommen hast. Du wirst sie gleich erkennen, weil sie ganz süß duften werden, als würden sie dir zurufen: ‚Bitte hilf uns, gib uns einen Schluck Wasser. Wir danken es dir mit unserem Duft!‘ Wenn du das hörst, wirst du wissen, dass es gut war, dass du noch eine Zeitlang hier geblieben bist, bevor du Mutti und Papa und deine Brüder einholst und ihr wieder beisammen sein werdet.“
    Ich spielte noch ein wenig mit dem Kind, bevor ich es der Großtante, die es gebracht hatte, übergab. Beim Abschied erhob es sich auf seine Zehenspitzen und flüsterte mir zu: „Glaubst du, ich werde die Blumen finden?“ „Ja“, sagte ich, und selten war ich mir einer „Prognose“ so sicher wie in diesem Fall, „du kannst sie nicht verfehlen. Denn sie blühen nur für dich …“
    Diese Krisenintervention erhebt nicht den Anspruch, das Kind „getröstet“ zu haben. Doch habe ich die Hoffnung, dass eine dauerhafte Todessehnsuchtprophylaxe geglückt ist. In Fällen jäher enormer Verluste wie diesem stellt sich nämlich bei einem Kind sehr schnell das innere Verlangen ein, „seinen Eltern nachzufolgen“. Was nicht bedeutet, dass sich ein Kind mit knapp sechs Jahren umbringen würde, aber durchaus bedeuten kann, dass sein Lebenswille flackert mit der Folge alsbaldigen Kränkelns …
    Meine Hoffnung, dem entgegengewirkt zu haben, basiert auf der Tatsache, dass die Gedanken des Kindes am Ende unseres Gesprächs bei den Blumen waren und nicht beim Badesee. Wobei die Blumen für die sinnvollen Aufgaben in der Zukunft stehen, die für dieses Menschenkind bereitliegen mögen, wohingegen der Badesee für lustvolle Erinnerungen aus der Vergangenheit steht, die zwar unverlierbar, aber nicht reaktivierbar sind im Hier und Jetzt.

Bitt- und Dankgebete
    Man sagt manchmal mit einem leicht zynischen Unterton: Not lehrt beten. Viktor E. Frankl teilte diesen Zynismus nicht. Er schrieb (in seinem Buch „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“, Piper, München, 9. Auflage 2004):
    „Im Übrigen soll man nicht geringschätzig davon sprechen, dass so manchen Menschen die Not beten lehrt. Es ist nicht einzusehen, warum das Beten in der Not weniger echt, weniger eigentlich, weniger ursprünglich sein sollte. Die Religion, die man erst hat, sobald es einem schlecht geht – in den USA nennt man sie
Fox Hole Religion –,
ist mir lieber als die Religion, die man nur hat, solange es einem gut geht – ich möchte sie nennen die
Business Men Religion.
Wie oft sind es erst die Ruinen, die den Blick freigeben auf den Himmel
!“
    Wie berührend ist doch dieser letzte Frankl-Satz! Ich habe ihn oft an Menschen, denen ein schweres Schicksal sämtliche Pläne durchkreuzt hat, weitergegeben, und fast immer vermochte dieser eine Satz sie ein wenig aufzurichten. Mit dem Thema „Beten“ habe ich in meiner langjährigen Praxis allerdings auch merkwürdige Erfahrungen gemacht. Da ist zum einen die Erfahrung, dass Dankgebete vom psychohygienischen Standpunkt aus unvergleichlich bekömmlicher sind als Bittgebete. Dankgebete streicheln die Seele und sind überdies das allerbeste Schlafmittel, das ich kenne. Wer abends vor dem Einschlafen im Bett kurz rekapituliert, was er am vergangenen Tag Erfreuliches erlebt hat oder wofür er sonst Grund zur Dankbarkeit hat, der versinkt in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Alle widrigen Grübeleien, die ihn aufwecken, alle „Sandsäcke“ schwelender Sorgen, die sich auf seine Brust legen könnten, sind wie weggeblasen. Dankbarkeit entspannt, beruhigt den Atem, legt den Menschen in die sanften Arme der Zufriedenheit.
    Von solcher Qualität sind Bittgebete nicht. Sie mögen Ausdruck eines Gottvertrauens sein, und doch sitzt ihnen oftmals die Angst im Nacken. Die Ungewissheit ihres Erhört-Werdens kann einen Stachel in die Seele des Betenden treiben. „Lieber Gott, bitte mache mein Kind wieder gesund!“ „Und wenn nicht?“, fragt die Angst. „Lieber Gott, bitte lasse mich die Abschlussprüfung bestehen!“ „Und wenn nicht?“, fragt die Angst.
    Was den Dankgebeten ihre Souveränität verleiht, ist die Gewissheit eines Gelungenen. Was hingegen die Bittgebete so oft zu „Zitterpartien“ ummünzt, ist die Ungewissheit eines zu Gelingenden. Man kann bei Gott nichts bestellen, nichts einklagen, man kann nicht handeln und feilschen mit ihm,
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