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Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Bevor du stirbst: Roman (German Edition)

Titel: Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
Autoren: Camilla Grebe , Åsa Träff
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lächelt er mich von dem Hochglanzfoto aus an.
    Unverändert sogar vom Tod.
    Meine dunklen, fast schwarzen Haare sind kurzgeschnitten, genau wie heute. Meine mageren, braungebrannten Arme lassen das Kleid aus irgendeinem Grund viel zu groß wirken. Ich sehe fast ein wenig verkleidet aus, wie ein Kind, das ein altes Kleid seiner Mama ausgeliehen hat
    Ich suche weiter. Finde einen Stapel Bilder, die die Renovierung des Hauses dokumentieren. Stefan, der auf einer wackligen Leiter die Fassade anstreicht. Seine Jeans voller Farbflecken. Aina, die mit breitem Lächeln Bretter heranschleppt, Aina und ich, die auf der Wiese Würstchen grillen. Stefan ist nicht dabei, sicher hat er das Foto gemacht.
    Es ist fast zehn Jahre her. Ein anderes Leben. Ich lege die Bilder zurück und ziehe einen weiteren Umschlag heraus. Er ist älter, zerknitterter. Wieder Stefan. Jünger. Die Haare dunkel gefärbt, der Pony hängt ins Gesicht. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, er kann kaum älter als achtzehn sein. Er hat etwas Kindliches und Unschuldiges, und der Schmerz überwältigt mich, ehe ich mich wehren kann. Ich hatte gewusst, dass es wehtun würde, aber ich bin doch nicht darauf vorbereitet, dass es so schlimm ist. Dass Trauer und Schmerz zurückkehren. Als hätten sie nur eine Weile ausgeruht und seien jetzt wieder da. Bereit, mich langsam in die einsame schwarze Leere zu ziehen, die gleich neben unserer Welt klafft. In das, was mein Paralleluniversum war.
    Ich denke an alles, was meine Therapeutin mir damals beigebracht hat. Das Gefühl existieren zu lassen, ihm einen Platz zu geben, auch wenn es wehtut. Weiter zu leben, auch wenn es wehtut. Ich staune darüber, wie jung ich aussehe, und über das Leben, das ich hatte: ein Mann, ein Zuhause. Und die Verheißung eines Kindes.
    Und ich denke an das Leben, das ich jetzt habe. Markus, Erik. Das Haus ist dasselbe, die Bewohner sind ausgetauscht worden. Und meine Leere hat sich langsam gefüllt.
    Als die Trauer am stärksten war, war ich überzeugt davon, dass auch mein Leben vorüber sei. Dass ich niemals wieder lachen würde. Dass das Leben für immer seinen Sinn verloren habe.
    Ich atme langsam, streife behutsam mit dem Finger über Stefans Gesicht und lege das Bild vorsichtig wieder hin. Und dann sehe ich etwas, das sich in dem zerknitterten Fotoum schlag versteckt hat, zusammen mit den Negativen. Etwas, das nicht dort hingehört. Normales vergilbtes Zeitungspapier, fünf mal zehn Zentimeter. Sorgfältig ausgeschnitten.
    Zuerst glaube ich, es sei Stefans, aber dann lese ich, und es ist die Todesanzeige eines anderen. »Anders Holmberg. Mein geliebter Mann, unser Vater, unser Sohn, hat uns überraschend verlassen. Geboren am 2. Januar 1969, gestorben am 25. Februar 2005. Warum?«
    Etwas später halte ich das vergilbte Stück Papier immer noch in der Hand. Anders Holmberg. Ein Mann, von dem ich nie gehört habe, dessen Namen Stefan nie erwähnt hat. Und der doch so wichtig war, dass Stefan die Todesanzeige ausgeschnitten hat. Sie aufbewahrt hat. Dieser Anders starb im selben Jahr wie Stefan, nur wenige Monate vor Stefans Selbstmord.
    Ich greife zu dem Fotostapel. Bilder von Stefan. Jung, schlank, mit Pony. Immer schwarz gekleidet. Andere Menschen. Menschen, die ich nicht kenne. Ein roter Klinkerbau sieht feierlich und traditionsschwer aus. Massive Wände, goldene Inschrift: Höhere Allgemeine Lehranstalt. Vermutlich Stefans altes Gymnasium. Und jede Menge fein angezogener junger Menschen. Mädchen in Weiß mit breiten Schultern und engen Röcken. Jungs mit zerzausten Frisuren und ausgebeulten doppelreihig geknöpften Anzügen. Alle tragen weiße Mützen.
    Abitur.
    Ob dieser Anders auf diesen Bildern zu sehen ist? Ist er einer der jungen Männer, die im ersten eigenen Anzug und mit der Abiturientenmütze auf dem Kopf in die Kamera schauen? Und warum hat Stefan mir nicht von einem Freund erzählt, der gestorben war? Vielleicht standen sie einander nicht nah genug, und Stefan fand es nicht der Rede wert. Aber dennoch. Es gibt keinen Menschen, dem ich sofort so großes Vertrauen geschenkt habe wie Stefan, keinen, dem ich mich so offen anzuvertrauen gewagt habe. Und ich glaube, dass es ihm mit mir ebenso ging. Also, warum hat er das hier nicht erwähnt? Oder hat er das getan? Und ich habe es vergessen?
    Ich versuche, mich an unsere letzten gemeinsamen Monate zu erinnern, aber ich weiß nur noch, wie er sich langsam von mir zurückgezogen hat. Wie er lange vor seinem Tod in sich selbst
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