Bevor du stirbst: Roman (German Edition)
verschwunden ist. Später habe ich begriffen, dass vieles in seinem Verhalten die klassischen Vorzeichen eines bevorstehenden Selbstmordes darstellte. Er sortierte seine Habseligkeiten, verschenkte kleine Dinge. Sorgte dafür, dass alle wichtigen Papiere in Ordnung waren.
Er bereitete alles vor, nur keine Erklärung.
Viele, die sich dafür entscheiden, sich das Leben zu nehmen, hinterlassen keinen Brief, keine Mitteilung. Vielleicht, weil ihr Tod einem Impuls entsprang, nicht geplant war. Aber vielleicht auch, weil es keine Worte gibt. Wie soll man anderen erklären, warum man lieber stirbt, statt weiterzuleben? Aber für die, die zurückbleiben, ist das Fehlen von Erklärungen eins von den Dingen, die zu akzeptieren den größten Schmerz bereiten.
Ich kann alles natürlich aus professioneller Perspektive betrachten. Als Therapeutin habe ich mit Klienten zu tun, die nach dem Verlust eines Angehörigen trauern. Die jemanden verloren haben durch einen Unfall, eine Krankheit, unerwartet und plötzlich oder nach einem langen, ausdauernden Überlebenskampf. Und die Frage ist immer dieselbe – warum?
Warum?
Sofort fangen meine Gedanken an, Hypothesen zu ersinnen. Kann Anders’ Tod Stefans Depression verstärkt haben? Die Mitteilung vom Tod eines alten Freundes wurde vielleicht zu einem weiteren Beweis für die Sinnlosigkeit des Lebens. Und vielleicht hat Stefan gerade deshalb damals beschlossen, mir nichts vom Tod seines Freundes zu erzählen.
Ich gehe nach unten und setze mich an unseren kleinen Küchentisch. Lege die vergilbte Todesanzeige auf die abgenutzte Tischplatte. Im Kamin brennen einige Holzscheite, und es knistert und knackt, als das Feuer die Feuchtigkeit im Holz erhitzt. In diesem Moment kommt die Küche mir vor wie der sicherste Ort auf der ganzen Welt.
Ich stehe auf und öffne vorsichtig die Schlafzimmertür. Erik liegt in seinem Bett und schläft. Er ist schweißnass, und seine Wangen glühen fiebrig. Das Zimmer ist warm und ein wenig stickig, und ich denke, dass er sicher kühler liegen sollte, dass diese Hitze bei Fieber vielleicht nicht gut ist. Das Schlafzimmerfenster ist mit Reif bedeckt, und draußen ahne ich den Himmel, der sich jetzt rosa und golden färbt. Ich gehe vorsichtig durch das Zimmer, um Erik nicht zu wecken. Nehme meinen Laptop vom Bett und schleiche mich rückwärts wieder hinaus.
Ich will wissen, wer dieser Anders Holmberg war. Wer er war und warum seine Todesanzeige zwischen Stefans Sachen liegt, sorgfältig ausgeschnitten, in einem Umschlag mit Fotos vom Ende der achtziger Jahre. Ich weiß, dass es heutzutage im Internet Gedächtnisseiten gibt, Seiten, wo man Bilder des Menschen hinterlegen kann, den man verloren hat, Texte, Gedichte.
Ich öffne Google und gebe den Namen ein. In weniger als einer Sekunde gibt es 300 000 Treffer. Ich mache noch einen Versuch. Anders Holmberg. Tot. 2005. Und jetzt scheint die Suche besser zu klappen. Ich klicke den ersten Link an. Es ist ein Artikel aus Aftonbladet . Das Bild zeigt einen Mann Mitte dreißig. Er hat eine Brille, kurzgeschnittene Haare und sieht absolut durchschnittlich aus. Die Überschrift ist dick gedruckt: »Die Schüsse am Karlaplan verwirren die Polizei. Warum wurde Anders ermordet?«
Stockholm 1988
Das Laken war schweißnass, das Schlafzimmer eiskalt. Stefan trat die Decke beiseite und stand auf, um das Fenster zu schließen. Als er das Rollo ein wenig anhob, sah er, dass es bereits hell wurde. Er hörte eine Amsel singen, die gezwitscherte Tonfolge hob und senkte sich über dem Dach. Er verkroch sich wieder im Bett, drehte die Decke um, sodass die kalte, von Angst feuchte Seite nach oben schaute.
In dieser Nacht war der Traum wieder da gewesen. Es war Sommer, und er war zehn Jahre alt. Das Wasser glitzerte und war blau, der Himmel hell. Er stand ganz oben auf dem alten Sprungturm. Das Holz war morsch, und im verwitterten Gebälk hatten Generationen von Kindern ihre Namen eingeritzt: Bengt liebt Sylvia. H + K. Benny was here.
Er wollte springen. Das Wasser war fünf Meter unter ihm, aber im Traum wurde die Entfernung immer größer. Und wuchs weiter an. Er traute sich nicht, an den Rand zu gehen, nach unten zu schauen. Hinter ihm die Schlange der wartenden Kinder. Ihre ungeduldigen Stimmen wurden immer lauter. Spring schon. Spring endlich, du Hirni. Feigling. Steffe, der Feige. Steffe, der Feige. Ein Mädchen im roten Badeanzug und mit strähnigen aschblonden Haaren versuchte, ihn nach vorn zu schieben. Dann kam der
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