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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst
Autoren: James Preller
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wurden. Er hätte sie gern geglaubt, doch er kam nie über die Frage hinweg, wie diese verschiedenen Götter der vielen, vielen Religionen alle gleichzeitig recht haben konnten. Irgendjemand musste einfach falschliegen. So hielt sich Jude statt an den Glauben lieber an den Zweifel. Er trug die Unsicherheit mit sich herum, die Last des Ungewissen. Und während er den Hausanstrich wegscheuerte, schloss Jude mit diesem Unwissen einen Waffenstillstand.
    Immer noch dachte er ständig an Corey, doch die Gestalt dieser Gedanken hatte sich verändert. Es war nicht mehr der tote Corey, es waren die positiven Erinnerungen, Bilder der Freundschaft, die geblieben waren. Die Zeit hatte seine Wunden nicht geheilt, aber sie hatte die Bitterkeit aus seinem Herzen gespült. Zum ersten Mal empfand Jude Mitleid mit Daphne, der Fahrerin des Unglücksautos. Sie war ein nettes Mädchen, wollte Tierärztin werden, sorgte sich um kranke Katzen und musste jetzt für den Rest ihres Lebens Schuldgefühle mit sich herumschleppen. Daphne hatte sich an diesem Abend bereit erkärt, sich ans Steuer zu setzen; sie hatte nichts getrunken und laberte auch nicht am Handy, als es geschah. Es war einfach ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände: Ein Tier war auf die Straße gelaufen, und sie war gegen den einzigen Baum in einem Umkreis von hundert Metern gekracht. Das hätte jedem passieren können – auch wenn es eigentlich überhaupt nicht hätte passieren dürfen. Hätte können, hätte dürfen. Gähnend öffnete das Universum seinen klaffenden Schlund. Jude konnte Daphne nicht mehr hassen. Für so etwas brauchte man einfach viel zu viel Kraft.
    Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, kam sein Vater vorbei, um Judes Fortschritte zu begutachten. »Gönn dir mal eine Pause«, sagte er. »Setz dich zu mir ins Auto. Ich muss ein paar Besorgungen machen.«
    »Ich bin hier grade gut drin«, erwiderte Jude. »Fahr nur.«
    Sein Vater klimperte mit den Schlüsseln. »Komm.« Es war keine Bitte. So redeten die Leute inzwischen mit Jude. Als wüssten sie es alle besser. Meinetwegen. Jude hockte sich nach hinten und unterhielt sich mit seinem Dad über Baseball. Ein sicheres, leichtes Thema. Mr. Fox stoppte vor einem Einkaufszentrum am Sunrise Highway. Er reichte Jude mehrere Geldscheine und eine kurze Liste von Lebensmitteln. »Tu mir einen Gefallen, Jude. Kauf die paar Sachen ein. Ich hol inzwischen Farbe.«
    Mit einem leisen Stirnrunzeln akzeptierte Jude den Auftrag. Er schob einen quietschenden Einkaufswagen in den riesigen, kühlen Supermarkt und suchte die Abteilung für Obst und Gemüse, nachdem er die ersten Punkte auf der Liste gelesen hatte: Grapefruits , Äpfel , Bananen. Jude bemerkte ein älteres Paar in der Nähe. Ein schlurfender Mann mit gebeugtem Rücken, der eine Brille mit dicken Colaflaschengläsern und ein grünes Jets-Sweatshirt trug, das ihm lose um die klapprigen Knochen hing. Er kniff die Augen zusammen, um die Preise zu erkennen, wirkte verwirrt und schüttelte bekümmert den Kopf. Neben ihm eine stämmige, weißhaarige Frau. Sie machte einen wa chen Eindruck, kompetent, stark. Eine zähe alte Tante. Sanft redete sie mit ihrem Mann und legte einen Beutel Orangen in den Wagen. Dann rollten sie zusammen weg. Aus unerfindlichen Gründen wühlte diese unbedeutende Begegnung Jude stark auf.
    »Jude? Bis du das?« Es war eine vertraute Stimme, die ihn ansprach.
    Jude drehte sich um und hatte Coreys Mutter vor sich. Mrs. Masterson sah elegant aus, eine hochgewachsene, schlanke Frau in grauem Jackett und dazu passendem Rock über einer leuchtend blauen Bluse. »Oh, Mrs. Masterson. Hi.«
    »Jude, ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen.« Sie schaute sich um. »Bist du mit deiner Mutter hier?«
    Jude hielt eine Grapefruit hoch. »Nein, ich … Dad ist im Farbengeschäft. Ich soll Grapefruits und ein paar andere Sachen besorgen.«
    Lächelnd warf sie einen Blick auf die Frucht in Judes Hand. »Die ist noch nicht reif, sie ist zu gelb.« Mrs. Masterson prüfte mehrere Grapefruits und redete weiter. »Du musst die nehmen, die schon mehr orange sind. Die hier zum Beispiel. Aber achte auch auf weiche Stellen, schließlich willst du kein angestoßenes Obst.«
    Jude hielt eine Plastiktüte auf und ließ sich von Mrs. Masterson sechs schöne hineinlegen. Er lächelte. »Gut, dass ich Sie getroffen habe.«
    »Du bist bestimmt schon aufgeregt, weil nächste Woche die Schule wieder losgeht.« Sie strahlte ihn an, obwohl es ihr sicher nicht
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