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Bevor du gehst

Bevor du gehst

Titel: Bevor du gehst
Autoren: James Preller
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leichtfiel. »Das letzte Jahr.«
    »Ja, das letzte Jahr.«
    »Hast du dich schon für ein Studium entschieden?« Diese Frage wurde Jugendlichen in seinem Alter von allen Erwachsenen gestellt.
    »Noch nicht«, antwortete Jude. »Meine Noten sind gut. Ich denke an Boston oder New York, vielleicht Musik. Die Bewerbungen müssen erst im Januar abgegeben werden. Mal sehen, wer mich nimmt.«
    »Bei der Zulassungsprüfung hast du ja sehr gut abgeschnitten. Corey hat richtig mit dir angegeben, so stolz war er.« Mrs. Masterson hob das Kinn und zwang sich zu einer geraden Haltung. »Es bleibt ja noch viel Zeit, um sich zu entscheiden. Keine Eile.« Sie berührte ihn am Arm und drückte ihn leicht. »War schön, dich zu sehen, Jude. Wenn du mal bei uns vorbeischauen willst auf einen kleinen Besuch, du bist immer willkommen, das weißt du. Coreys Unfall war schwer für alle, und ich mache mir Sorgen um seine Freunde, vor allem um dich.«
    Er spürte, wie sich hinter seinen Augen ein warmer Druck bildete, und schaute weg. Sie machte sich Sorgen um ihn , eine Frau, die ihren Sohn begraben hatte. »Danke, vielleicht komme ich mal.« Er wusste genau, dass er diesen Besuch nie machen würde.
    »Bist du in die Kirche gegangen?« Mrs. Masterson war sehr religiös und ließ keinen Sonntagsgottesdienst aus. Corey und Jude hatten sich oft darüber lustig gemacht, weil sie immer darauf bestand, Corey mitzuschleppen.
    Jude schüttelte den Kopf. »Nein, ich …«
    »Mir hat es geholfen.«
    »Das freut mich.« Es freute ihn wirklich.
    Ernst spähte sie ihm in die Augen. »Geht es dir gut?«
    Neunundneunzig von hundert Malen gab Jude eine falsche Antwort auf diese Frage. Zuckte die Achseln, ließ einen Spruch ab, ging weg. Doch jetzt stand er atemlos da, und sein Blick verschwamm vor Tränen. Irgendetwas in ihm schien zu brechen wie ein Damm. »Nein, nicht wirklich.« Seine Stimme stolperte, als er die Worte sagte.
    Ihre warmen, dunklen Hände bewegten sich – Hände, die weich und unendlich sanft waren – und legten sich über seine. »Ich weiß, Jude. Ich sehe es in deinen Augen. Wenn du dein Herz offen lässt, wird Gott dich finden.«
    So standen sie in der Obstabteilung, umgeben von Orangen und Bananen, ein weißer Teenager und eine trauernde schwarze Frau, die seine Hände hielt; beide mit Tränen in den Augen.
    Wann wird das Weinen jemals aufhören? , fragte er sich.
    »Ich helfe meinem Vater beim Hausstreichen.« Jude stellte sich anders hin, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Und wir schneiden ein paar Büsche und den alten Baum vorne um.«
    »Da wird es bestimmt heller bei euch«, erwiderte sie.
    »Ja, ich glaube, die Wurzeln haben irgendwie das Fundament beschädigt«, merkte er ein wenig lahm an.
    »Es ist gut, das Licht reinzulassen.«
    Jude begriff, dass sie nicht von Bäumen redete, sondern in Gleichnissen, von tiefen, spirituellen Dingen.
    Judes Handy meldete sich mit dem elektrischen Riff eines Popsongs. Er grinste verlegen. »Das ist Dad. Wahrscheinlich wundert er sich schon, wo ich so lang bleibe.«
    Mrs. Masterson nickte verständnisvoll. Bevor sie auseinandergingen, fragte sie: »Jude, ist es in Ordnung, wenn ich dich umarme? Hier, mitten im Supermarkt?«
    »Ja, klar«, sagte er, seine Stimme ein kleines Tier am Rand eines dunklen Waldes.

31
    In dieser Nacht konnte Jude nicht schlafen. Um halb zwei lag er immer noch auf dem Rücken, und in seinem Kopf dröhnte wie eine Glocke die Überzeugung, dass alles in seinem Leben schiefgelaufen war. Er zwang sich, die positiven Aspekte in den Blick zu bekommen, die Menschen und Dinge, von denen er sich nie trennen würde. Doch es funktionierte nicht. In einem geheimen Winkel seines Selbst, zu dem er sich nicht zu bekennen wagte, sehnte er sich nur noch nach Vernichtung.
    Die Vorstellung des Todes. Süßes Vergessen.
    Jude spürte den Sog, der an ihm zerrte, die Strömung, die ihn mitreißen wollte. Er starrte zur Decke. Was ser drang in seine Ohren; wieder war er kurz davor zu ertrinken. Auf erstaunliche Weise war Jude sich völlig sicher, dass er hier in seinem Bett sterben würde, wenn er nichts unternahm, wenn er nicht sofort aufstand, um sich gegen den eisernen Griff zu wehren, der ihn immer tiefer in die Finsternis zog. Er setzte sich auf, knipste ein Schranklicht an und streifte sich schnell ein Paar ausgeleierte Shorts und ein Radiohead-T-Shirt über. Dann huschte er die Treppe hinunter und schlüpfte hinaus in die Nacht, die ihn mit frühherbstlichem Modergeruch
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