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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt
Autoren: Joy Fielding
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dämliche Verabredung mit Neil Macfarlane umziehen. Und sie hatte nach wie vor keinen Schimmer, was sie tragen sollte. Sie hatte keine Kleider, die elegant und sexy waren. Was hatte sie bloß geritten, ihm zuzusagen? Sie drückte die Daumen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Julia pünktlich um vier zu der Anprobe erscheinen würde.
    Es war schon erstaunlich, wie viel Zeit und Energie sie die Grübeleien über ihre ältere Tochter kosteten, dachte sie. Als Julia bei ihrem Vater gelebt hatte, hatte Cindy sich jede Minute des Tages Sorgen gemacht. Aß sie vernünftig, ging sie zeitig ins Bett, machte sie ihre Hausaufgaben? War sie in Sicherheit? War sie glücklich? Weinte sich das Kind jede Nacht in den Schlaf, wie Cindy es oft tat, und bereute ihre Entscheidung? Wünschte sie sich, zu Hause bei ihrer Mutter und ihrer Schwester zu sein, weil sie tief in ihrem Herzen wusste, dass sie dorthin gehörte? War es nur falscher Stolz, der sie ein trotziges Jahr nach dem anderen bei ihrem Vater hielt?
    Es kam ihr so vor, als hätte Julia selbst während ihrer Abwesenheit unverhältnismäßig viel Raum in dem Haus an der Balmoral Avenue eingenommen. Julia zu vermissen war eine Konstante in Cindys Leben geworden, ein Dauerschmerz in der Magengrube wie ein Geschwür, das sich sogar zu verheilen weigerte, als Julia entschied, nach Hause zurückzukehren.
    Aus dem Augenwinkel nahm Julia eine Bewegung wahr und wandte den Kopf zum Haus ihrer Nachbarn. Faith Sellick, mit 31 Jahren gerade Mutter geworden, saß auf der Treppe vor dem Haus und wiegte ihren Oberkörper hin und her, das Gesicht hinter ihren ungekämmten Haaren verborgen.
    »Faith?« Cindy ging vorsichtig den Weg zum Haus hinunter und beobachtete, wie die normalerweise freundliche und lebhafte junge Frau langsam den Kopf von den Knien hob, ihr rundes, hübsches Gesicht tränenüberströmt und vollkommen ausdruckslos. »Faith, was ist los? Alles in Ordnung?«

    Faith drehte sich zum Haus um und blickte dann wieder Cindy an. Cindy sah, dass die weiße Bluse der jungen Frau mit Milch bekleckert war, die aus ihren angeschwollenen Brüsten tropfte und münzgroße Flecken auf dem Stoff hinterließ.
    »Was ist los, Faith? Wo ist das Baby?«
    Faith starrte Cindy mit matten, traurigen Augen an.
    Cindy blickte an der jungen Frau vorbei und strengte sich an, irgendwelche Geräusche aus dem Innern des Hauses zu vernehmen, doch sie hörte nur Elvis, der nebenan bellte. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Faith und ihr Mann hatten sich fürchterlich gestritten; er hatte sie und das Baby verlassen; Kyle, dem zwei Monate alten Sohn des Paares, war etwas Schreckliches zugestoßen; Faith war kurz nach draußen gegangen, um frische Luft zu schnappen, und hatte sich ausgeschlossen. Doch keine der Möglichkeiten erklärte Faiths leeren Blick und die Tatsache, dass sie Cindy anstarrte, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. »Faith, was ist los? Sagen Sie was.«
    Aber Faith schwieg.
    »Faith, wo ist Kyle? Ist Kyle irgendwas zugestoßen?«
    Faith starrte zum Haus, frische Tränen kullerten über ihre Wangen.
    Den Bruchteil einer Sekunde später schoss Cindy an der jungen Frau vorbei ins Haus. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte sie nach oben und stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Jeder Atemzug zerriss ihre Brust wie ein Jagdmesser. Tränen brannten in ihren Augen, als sie auf die Wiege zustürzte, voller Angst davor, was sie erblicken würde.
    Das Baby lag auf frischen blau-weißen Gingan-Laken auf dem Rücken. Es trug ein gelbes Strampelhöschen und ein passendes gelbes Mützchen, und sein anmutiges Gesicht war sanft und rund wie das seiner Mutter, die vollkommenen Lippen zu einem hinreißenden Schmollen geschürzt, die Hände zu kleinen roten Fäusten geballt, die winzigen Fingerknöchel weiß. Atmete es?

    Cindy trat vorsichtig näher an die Wiege, beugte sich über das Gitter, hielt ihre Wange an den Mund des Babys und atmete seinen wunderbaren Säuglingsgeruch ein. Sanft drückte sie ihre kühlen Lippen auf seine warme Brust und hielt die Luft an, bis sie spürte, wie der ganze Körper des Kleinen zitterte, als er tief einatmete. »Gott sei Dank«, flüsterte Cindy und streifte mit den Lippen über die Stirn des Kleinen, um sicherzugehen, dass er kein Fieber hatte. Dann richtete sie sich wieder auf, verließ auf wackeligen Beinen langsam rückwärts das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu, wobei sie sich daran erinnern musste, das Atmen nicht zu vergessen. »Gott
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