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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt
Autoren: Joy Fielding
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unter uns bleiben«, warnte Tom sie und schloss die Schiebetür.
    Julia atmete tief ein und wieder aus, als würde sie eine verbotene Zigarette genießen. »Wie du weißt, hatte ich vor zwei Wochen ein Casting mit Michael Kinsolving für eine Rolle in seinem neuen Film. Dad hat gesagt, du hättest das Video gesehen.«
    »Ja«, bestätigte Cindy. »Du warst großartig.«
    Julia lächelte stolz. »Danke.«
    »Leider ist ein großartiges Casting heutzutage nicht genug«, fuhr Tom fort und übernahm wieder die Kontrolle. »Es gibt da draußen zu viele schöne, talentierte Schauspielerinnen, sodass Julia etwas brauchte, was ihr einen kleinen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz verschaffte, etwas, das ihr die Aufmerksamkeit garantieren würde, die sie verdient.« Er machte eine theatralische Pause. »Und wie erregt man besser Aufmerksamkeit, als indem man verschwindet?«
    Der Raum verschwamm vor Cindys Augen, während sie fassungslos den Kopf schüttelte. Sie hatte das bestimmt missverstanden. Sie musste das, was ihre Tochter und ihr Ex-Mann ihr zu erklären versuchten, falsch gedeutet haben. »Du meinst, das Ganze wäre nur eine PR-Aktion gewesen?«
    »Ich wollte bloß eine Chance, Mom. Michael hat so viele Mädchen gecastet. Er hatte eine Zeit lang keinen großen Erfolg mehr, und Dad hat gesagt, das Studio würde Druck auf ihn ausüben, die Rolle mit einer namhaften Hollywood-Schauspielerin zu besetzen. Wir wussten, dass wir irgendwas tun mussten, um das Spiel auszugleichen.«
    »Und da habt ihr diesen Plan ausgeheckt …«

    »Um Julia die gleiche Wahrnehmung zu sichern, die jede berühmte Schauspielerin bekommt, die zum Festival in der Stadt ist«, fuhr Tom mit unverhohlenem Enthusiasmus fort. »Cindy, ich arbeite als Anwalt in der Unterhaltungsindustrie. Ich weiß, wie die Branche funktioniert. Ich wusste, dass wir etwas ziemlich Drastisches inszenieren mussten, um den gewünschten Erfolg zu haben. Entertainment Tonight hat neulich abends ganze zwei Minuten über Michaels mögliche Verwicklung in Julias Verschwinden gebracht. Hast du eine Ahnung, wie kostbar eine derart prominente Berichterstattung ist? Michael wäre ein Idiot, wenn er ihr die Rolle jetzt nicht geben würde, und glaube mir, Michael Kinsolving ist kein Idiot. Er erkennt eine gute Story. Genau wie das Studio. Außerdem wissen sie, dass jeder ein Happy End liebt.«
    »Eine gute Story?«, wiederholte Cindy ungläubig. »Ein Happy End?«
    »Okay, Cindy. Du bist offensichtlich sehr erregt. Aber kannst du zumindest versuchen, das Ganze einigermaßen offen und unvoreingenommen zu betrachten?«
    »Warum hast du es mir nicht gesagt?« Cindy sah ihre Tochter mit aufgerissenen, ungläubigen Augen an. Konnte ihre Tochter wirklich so gefühllos, so monströs egozentrisch sein? »Hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe? Was wir alle durchgemacht haben? Warum hast du es mir nicht gesagt?«
    »Wir haben es überlegt«, setzte Julia an.
    »Ihr habt es überlegt?«
    »Wir konnten es dir nicht sagen«, meinte Tom knapp. »Wir wussten, dass du dich verpflichtet fühlen würdest, es zumindest deiner Mutter und Heather zu erzählen. Und Heather hätte es Duncan erzählt und deine Mutter Leigh, und wo hätten wir dann gestanden? Begreifst du denn nicht? Es hätte nicht funktioniert, wenn du nicht wirklich geglaubt hättest, dass Julia vermisst wird. Deine Tochter ist die Schauspielerin in dieser Familie, nicht du. Die Polizei hätte dich im Handumdrehen durchschaut.«

    »Außerdem wussten wir, dass du nie einverstanden gewesen wärst«, ergänzte der Keks nüchtern.
    Cindy war mit einem Mal speiübel. »Und der Nachmittag im Leichenschauhaus …«
    »Glaub mir, das war nicht meine Idee.« Tom wedelte mit den Händen vor dem Gesicht, als wollte er die Erinnerung verscheuchen. »Das will ich bestimmt nicht noch einmal durchmachen.«
    »Und was danach in deiner Wohnung passiert ist …«
    »Was ist in unserer Wohnung passiert?«, fragte der Keks.
    »All die Menschen, die von der Polizei vernommen wurden – Sean, Duncan, Ryan – Menschen, deren Leben wegen dieser kleinen Scharade auf den Kopf gestellt wurde. Und Faith. Mein Gott, die arme Faith!« Wieder sah sie vor ihrem inneren Auge, wie die unglückliche junge Frau sich vor den einfahrenden Zug warf, hörte das widerwärtige Geräusch des Aufpralls ihres Körpers auf Metall.
    »Faith hat sich nicht meinetwegen umgebracht«, protestierte Julia.
    »Sie litt unter postnatalen Depressionen«, sagte Cindy, bemüht, ruhig
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