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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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dass diese merkwürdige Frau ein Lächeln habe wie sonst wohl keine auf der Welt.
    An ihrem großen Tag wird Mona abtransportiert. Im Tore bangt man um sie, denn auch Mona gehört schließlich dazu. Wacho gesellt sich zu den anderen, bekommt einen schweren Becher Punsch, und er hält den Mund für heute, er beschließt, einmal darüber zu schlafen und dann –. Und dann will er mal sehen.
    »Morgen sieht alles schon ganz anders aus«, hat er David früher nach der Gutenachtgeschichte und kurz vor dem Ein
schlafen versichert, und daran will Wacho an diesem Januartag glauben. Er muss dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist, damit Anna zurückkommen kann und weiß, wo sie ist, und dass er da ist und David auch, auch David muss unbedingt da sein. Alles muss stimmen, nichts darf verschwinden.
    Mona ist in ihrer Abwesenheit mächtig wie noch nie: Der Flutung hat sie noch einen Tag Einhalt geboten. Mona Winz, die keine Hexe ist, die sich immer noch nach Sansibar sehnt und gleichzeitig den Abschied von der bekannten Welt fürchtet, die heute ihre Liebe fand und dies mit dem Verlust ihrer Sehschärfe bezahlen musste, Mona hat die große Flutung für einen Tag in eine stillbare Blutung verwandelt und dem Ort eine Schonfrist verschafft. Ab morgen wird sich alles ändern, aber morgen ist nicht mehr Monas Tag, morgen sind andere dran.
    Wacho
Ein halbes Jahr
    Am Abend des Tages von Monas Verschwinden verlässt Wacho das Tore früher als sonst, und das, obwohl er heute mehr Grund hätte als je zuvor, dort die Nacht zu verbringen. Man muss sie nutzen, die Nächte, die sie noch haben. Wacho klopft dreimal auf das klebrige Holz des größten Tisches, lächelt andeutungsweise in die Runde und überlässt es den anderen, sich zu überlegen, was er so früh schon zu Hause will.
    Nach der bulligen Wärme im Wirtshaus ist das Zusammentreffen mit der frischen Luft einschneidend, und Wacho klappt einen Kragen hoch, den er nicht hat. Er ist direkt in die Kneipe gegangen, nachdem die beiden Männer davongefahren waren, er hat sich nicht mal mehr etwas übergezogen, trotz des Regens, der wohl nie wieder aufhören wird.
    Stoisch wandert Wacho durch den Wolkenbruch und über den Hauptplatz, schiebt die Gedanken vom Untergang so gut es geht beiseite, sucht dieses eine Bild wie immer und noch vor ein paar Stunden, bevor die Fremden in seiner Küche auftauchten. »Anna« und »verdammte Scheiße« murmelt Wacho, und zwar in Endlosschleife, immer wieder »Anna, verdammt!«. Diese eine Erinnerung, er kann sie nicht abrufen, die Bilder sind vollkommen durcheinander, er hat ihn verloren, seinen sichersten Moment, an dem er sich festhält seit Jahren, seit Anna fort ist. Finden kann er nur noch die Vorboten ihres Verschwindens und die Zeit danach, als sie allein waren, David und er, und sie immer schlechter zurechtkamen. Zusammen und so ganz allgemein.
    Kurze Zeit nachdem Anna verschwunden war, hatte Wacho mit Gutenachtgeschichten versucht, seinen Sohn zu beruhigen. Jeden Abend einigten sie sich auf eine oder zwei, und sie erzählten sie einander im Wechsel. Meist kamen darin Piraten vor und Seeungeheuer und ab und zu auch ein Mann namens Albert Helm auf einem purpurfarbenen Schwan und mit Nachtsichtgerät. Nach kurzen Startschwierigkeiten hatte die Familie im Hause Wacholder aus Martin und David bestanden, Vater und Sohn, füreinander nie Wacho und Spinner wie für die anderen. Ein Männerhaushalt ohne Wenn und Aber, für eine Weile zumindest.
    Zusammen spülten sie das Geschirr, sie spielten Karten und ab und zu Schach, sie sahen sich Spiele an im Fernsehen und schauten nie aus dem Fenster. Sie sprachen nicht darüber, warum sie nur noch zu zweit waren. Viele Jahre lang war es gut so, wie es war. Und eines Tages kam es dann doch, das Aber, und David widersprach allem, was Wacho sich wünschte, von jetzt auf gleich waren sie nicht länger einer Meinung. Das Aber hatte sich zwischen sie geschoben, sie wussten nicht, woher es gekommen war, und dazu gesellte sich Davids Blick in die Ferne.
    Von da an war Martin auch zu Hause nur noch Wacho, Türen wurden geknallt und durften ohne Audienzgesuch nicht mehr geöffnet werden, mit einem Mal waren sie einander sehr fremd. Wacho merkte, dass er mit diesem erwachsenen Sohn nicht viel anfangen konnte, und noch dazu begann David ihn an Anna zu erinnern. Seine Augen waren auf der Höhe, aus der früher sie ihn angeschaut hatte. Genau wie sie verbarg David in seinen Taschen Geheimnisse. Selbst sein Haar

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