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Betrügen lernen

Betrügen lernen

Titel: Betrügen lernen
Autoren: W Bartens
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bereits besetzt. Sie musste ins Bad. Sie hieß Jennifer und war genauso alt wie er. Sie duschte oder badete, das war egal. Aber jedes Mal setzte sie sich nach dem Baden auf den Teppichfußboden. Nackt. Und sah in seine Richtung. Sie musste doch genau wissen, dass er im Nebenzimmer auf den Stufen hockte und angestrengt durch den Schlitz zwischen Tür und Boden blinzelte, um tiefere Einblicke zu erhaschen.
    Der Spalt unter der Tür war extra etwas breiter gearbeitet, denn die Tür musste sich ja über diesen übertrieben dicken, flauschigen Teppich hinweg öffnen lassen. Die Auslegeware hatte sehr lange, verwuschelte Fransen. Alex hat sich selten wieder so intensiv mit der Textur eines Teppichs befasst wie damals. Er versuchte das dichte Geflecht mit den Fingern breitflächig runterzudrücken, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Er überlegte, ob er ihn mit seiner Nagelschere etwas stutzen sollte.
    Es gelang ihm aber kaum, zwischen seinen Fingern einen Spalt freizubekommen. Drückte er an einer Stelle, richteten sich sofort andere Fasern auf und versperrten die Sicht. Entspannt war das nicht und auch nicht gut für die Wirbelsäule, weil Alex nur in ziemlich verbogener Sitzhaltung die Augen optimal vor den Türschlitz bekam. Die Teppichfransen ließen sich zudem schlecht reinigen, und Alex musste mehrfach heftig niesen, wenn er kurz davor war, Jennifers Waschungen genauer betrachten zu können. Einmal blieben seine Finger während einer heftigen Niesattacke unter der Tür eingeklemmt, sodass ein Handwerker geholt werden musste, der gemeinsam mit dem Gasteltern-Arzt der Familie seine Finger rettete. Die Aktion brachte ihn in beträchtliche Erklärungsnot, auch wenn Alex sich bis heute nicht sicher ist, ob man aus moralischer Sicht einem englischen Gartenmörder Rechenschaft schuldig ist. Seit dieser Zeit plagt Alex jedenfalls eine lästige Hausstauballergie, und Teppiche in der Wohnung erträgt er seit diesem England-Austausch überhaupt nicht mehr.
    Doch trotz dieses Zwischenfalls bereitete Jennifer Alex allmorgendlich weiterhin diese Qual. Sie duschte, dann setzte sie sich auf den Badezimmerteppich in Richtung seiner Zimmertür. Tagsüber warf Alex mit Jennifers Bru der Dartpfeile und hörte »Stairway to Heaven« und andere Hardrock-Balladen an. Rückwärts gespielt, habe »Stai r way to Heaven« angeblich satanische Wirkungen, erklärte Jennifers großer Bruder seinerzeit, aber die alltägliche Entblätterung seiner Schwester im Badezimmer war Alex schon teuflisch genug und verdrehte ihm die Sinne.
    Alex fallen noch etliche verhinderte Rendezvous ein: Während einer Tagung über Bewusstsein und Beziehung lernte er eine faszinierende junge Frau kennen. Nachdem er sich immer angeregter mit ihr unterhalten hatte, gestand sie ihm, eine Synästhesistin zu sein. Da sie so ge heimnisvoll tat und er den Begriff nicht kannte, vermutete er zunächst, sie sei Anhängerin einer abseitigen Sexualpraktik. Dann stellte sich heraus, dass sie die Sinne vermischte und doppelt erlebte und beispielsweise alle Geräusche auch als Farben sah. Das Prasseln der Dusche nahm sie als gelb-grauen Schleier wahr. Das Kratzen der Kreide auf der Tafel als giftiges Grün.
    Alex fragte mit wachsendem Interesse nach ihren Farb eindrücken, es musste spannend sein zu erfahren, was sie beispielsweise beim Geräusch zweier sich küssender Münder sehen würde. Aber je öfter er nachhakte, desto heftiger grummelte sein Bauch, die fangfrische Forelle vom Abendessen hatte wohl das Wasser schon länger nicht mehr gesehen. Ihm wurde ziemlich schlecht – gab es auch ein Syndrom, bei dem erotische Anbahnungen zuverlässig mit körperlichen Beschwerden aller Art einhergingen? Statt die Nacht mit ihr zu verbringen, verbrachte er die Nacht auf der Toilette und sah dabei hauptsächlich die Farbtöne Gelb-Grün.
    Und jetzt war ihm auch noch das Missgeschick mit Valerie und dem Massageöl passiert. Offenbar war er nur haarscharf mit dem Leben davongekommen. Wenn das kein Zeichen war. Wenn er jetzt nicht einhalten und umkehren würde, wann dann? Er würde Clara beichten, dass er auf Abwege geraten war, und sie um Verzeihung bitten. Wie sehr er hoffte, dass sie einen Neuanfang mitmachen würde!
    Andererseits hatte seine Großmutter ihn immer gewarnt: Sage nie deiner Frau, dass du sie betrogen hast. Und sie hatte Gründe dafür, auch wenn Alex nie erfah ren hat, ob ihre Empfehlungen theoretischen Erwägungen oder praktischen Erfahrungen entsprungen waren. Oma
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