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Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)

Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)

Titel: Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
Autoren: Christian Bartel
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so traurig und etwas anderes fällt mir nicht ein. Vielleicht funktioniert es ja bei ihr. Aber die Klamotten lassen wir an.
    »Schwitzhütte haben wir ja schon«, sage ich und lasse einen Schluck Cognac auf den Platten des Herdes verdampfen, der noch immer tüchtig nachheizt.
    »Fehlt nur noch das hier.« Ich prokele ein silbrig glänzendes Stück Kaugummipapier aus meinem Portemonnaie, falte es auf und nehme ein weiteres Papier heraus. Es ist der Trip von unserer Zeugnisverleihung, ich habe ihn nie weggeworfen.
    Stattdessen hatte ich mir vorgenommen, mit der Verkostung des LSD auf einen Moment perfekten Glücks zu warten, auf dass die Welt ihre Schalen öffne und mir die Perle in ihrem Inneren offenbare. Aber entweder hat es diesen Moment nie gegeben oder ich habe ihn verpasst. Das ist eine Frage der Anschauung, vermute ich.
    Ich schneide das Papier vorsichtig in zwei Hälften und reiche eine davon Oma Wittrich.
    »Nehmen Sie das in den Mund, das wird Ihnen guttun.«
    Sicher bin ich mir da allerdings nicht, aber Oma Wittrich stellt keine Fragen, und als die Pappe in ihrem Mund verschwunden ist, nehme ich meine Hälfte auch.
    »Und jetzt?«, fragt Oma Wittrich.
    »Jetzt warten wir«, sage ich.
    Und das tun wir.
    »Was immer Sie gleich von mir denken mögen«, unterbreche ich noch einmal die Stille, »merken Sie sich: Ich bin kein Kannibale.«

20 Oma Wittrich schaut mich erwartungsvoll an, ich schaue erwartungsvoll zurück. Die Küchenuhr tickt aufdringlich der nächsten vollen Stunde entgegen. Sonst passiert nichts.
    Vielleicht ist das Zeug schon zu alt, überlege ich, außerdem hatte ich es schon mal im Mund, aber das behalte ich vielleicht lieber für mich. Wir sitzen immer noch in der brütend heißen Küche, der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter, aber irgendetwas hindert mich daran, aufzustehen und das Fenster zu öffnen.
    »Ich kann nicht aufstehen«, sage ich zu Oma Wittrich.
    »Rheumatismus«, vermutet sie, aber das ist es nicht.
    Ich befühle meine Oberschenkel, lasse die Finger bis zum Knie gleiten, es fühlt sich alles sehr fremdartig an. Dies sind nicht meine Beine, es sind Phantombeine. Ich ziehe den linken Socken aus und erhalte umgehend Gewissheit: Das ist keinesfalls mein Fuß.
    »Ich habe keine Beine mehr«, unterrichte ich Oma Wittrich, die sich der Betrachtung eines Spitzendeckchens zugewandt hat.
    »Mein Mann hatte auch keine Beine mehr, das war nicht schön. Ich habe mich immer so erschreckt, wenn ich aufgewacht bin und die Stümpfe gesehen habe. In meinen Träumen hatte er nämlich immer welche«, sagt sie, mich durch die Maschen des Deckchens ankniepend, und dann unvermittelt: »Wir haben Drogen genommen, nicht wahr?«
    Ich nicke.
    »Sie wirken aber nicht.« Oma Wittrich kichert mädchenhaft.
    Ich zucke unsicher mit den Schultern.
    »Ich kann dies Spitzendeckchen nicht falten«, sagt sie seufzend. »Es will mir nicht gelingen.«
    »Vielleicht ist das auch nicht so wichtig«, antworte ich, weil sie mich mit ihrem Deckchengefalte nervös macht. Ich nehme ihr das Deckchen ab und lege es über die Lampe, sofort ist der Raum von einem schwarz geäderten Netz überzogen, das ich nach eingehender Betrachtung als irritierend einstufen muss. Ich nehme das Deckchen wieder ab und lege es vor mich hin. Diesmal erscheint kein Netz. Ich habe das Deckchen überlistet.
    Oma Wittrich legt ihren Kopf schräg und schaut wie ein Uhu.
    »Du hast Recht«, gluckst sie, »du hast ja so Recht, Goldköpfchen.«
    Sie steht auf, schüttelt das Alter aus ihren Gliedern, wirft den Kopf in den Nacken, lässt ein lautes »Schuhu« vernehmen, spreizt ihr Gefieder und fliegt davon.
    »Wenn du mich entschuldigen würdest«, höre ich ihre Stimme von irgendwo, »ich habe Besuch.«
    Ich wende mich wieder meinen Beinen zu, die inzwischen zu mir zurückgekehrt sind. Sie wollen liebkost werden, und meine Unterschenkel zucken recht lustig unter den Berührungen.
    »Ruhig«, rede ich ihnen sanft zu, tätschele noch einmal ihre Flanken und schwinge mich dann auf sie. Zuerst etwas wacklig, aber dann immer sicherer, tragen sie mich quer durch den Raum, der mir auf einmal albern und nutzlos erscheint. Dies ist kein Ort für mich und meine Beine.
    Hier wohnt das Glück nicht, beschließen wir, und deswegen treten wir hinaus in die Steppe, die sich endlos zwischen Spülbecken und dem weiß lackierten Buffetschrank erstreckt.
    Kaum werden die Beine des wogenden Grasmeers ansichtig, galoppieren sie los, ich kann mich kaum auf ihnen
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