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Beton

Beton

Titel: Beton
Autoren: Thomas Bernhard
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letzten Aufenthalt, dachte ich. Wenn mich die Cañellas sehen, werden sie erschrecken. Andererseits, dachte ich, sieht man mir meinen wirklichen Zustand , der kaum mehr schlechter sein kann, nicht an, oder ich bilde mir das wenigstens ein. Alles langsam, alles vorsichtig machen, sagte ich mir, vorsichtig, das war das eindringlichste Wort des Internisten. Aber ich gebe nicht auf, dachte ich. Gerade jetzt nicht. Zuerst ist die Luft herrlich, würzig, ich lebe vollkommen auf, und von einem Augenblick auf den andern schlägt sie mich wie einen Hund zusammen. Ich kenne das. Aber von allen klimatischen Bedingungen, die ich kenne, ist das von Palma das beste. Und die Insel ist immer noch die schönste in Europa, auch die Hunderte von Millionen Deutschen und die genauso fürchterlich um sich schlagenden Schweden und Niederländer haben sie nicht vernichten können. Sie ist heute schöner denn je. Und welcher Ort und welche Gegend und was immer, dachte ich, hat nicht seine Kehrseite? Es ist gut, daß ich aus Peiskam weg bin und in Palma neu begonnen habe. Es ist ein Neuanfang, dachte ich und stand von der Steinbank auf und ging weiter. Die Palmen, die ich so groß in Erinnerung hatte, waren jetzt noch viel größer, an die zwanzig Meter hoch, hatten sie alle ungefähr in der Mitte des letzten Drittels oben, einen leichten Knick. Wie herrlich die Lichter der Passagierschiffe vom großen Hafen herüberglitzerten. Hotel Victoria , las ich, auch da hatte ich einmal gewohnt, aber jetzt, in den letzten Jahren, hat sich die ganze widerliche Meute der sogenannten Neureichen daraufgestürzt undes unerträglich gemacht. Nein, nie wieder in das Victoria , sagte ich mir. Ich ging jetzt, etwa fünfzehn Minuten nach meinem Atemnotanfall, aufeinmal ganz leicht das Molo entlang und hatte ganz unbewußt, meine alte Gewohnheit wieder aufgenommen: ich zählte die Masten der Segelschiffe und der Jachten, die hier zu Tausenden ankerten, die meisten gehörten Engländern, die ihre Schiffe verkaufen wollten und beinahe an jedem zweiten war ein Schild mit for sale ; jetzt hat auch England endgültig abgedankt, sagte ich vor mich hin. Der Satz belustigte mich aber, obwohl er mich hätte noch trauriger machen können, als ich schon war. Im Hotel ging ich nicht gleich auf mein Zimmer, sondern blieb in der Halle sitzen. Sehen wir einen uns unbekannten Menschen, sagte ich mir, von einem wirklich idealen Platz in der Halle aus, so wollen wir sofort wissen, was er wohl ist und woher er kommt. Dieser Neugierde kann ich am besten in den Hotelhallen nachgeben und ich entwickle sie jedesmal bei einem Hotelaufenthalt zu meinem Lieblingsspiel. Vielleicht ist der ein Ingenieur?, oder, noch präziser, ein Kraftwerkebauer? Vielleicht ist jener ein Arzt, ein Internist oder ein Chirurg? Und dieser ein Großkaufmann? Und dieser ein Bankrotteur? Ein Fürst?, in jedem Fall verkommen. So kann ich stundenlang in der Hotelhalle sitzen und mich fragen, was der und jener ist, und schließlich alle, die die Halle betreten, sind. Bin ich müde, gehe ich auf mein Zimmer. An diesem Abend war ich, allein durch den Gang auf die Borne und wieder zurück und vor allem durch die Katastrophe dieser Härdtl, die mir die ganze Zeit nicht aus dem Kopf gegangen war, völlig erschöpft gewesen. Früher hatte ich mir ein Glas Whisky mit aufs Zimmer genommen, jetzt nur ein Glas Mineralwasser. Ich dachte, ich werde schlafen, aber ich schlief nicht. Es war doch gut, daß ich meinen Pelz umgehängt hatte, dachte ich, mit Sicherheit hätte ich mich auf der Borne sitzend, verkühlt. Wenn wir die Sätze im Kopf haben, dachte ich, haben wir noch nicht die Sicherheit, sie auch aufs Papier zu bringen. Die Sätze machenuns Angst, zuerst macht uns der Gedanke Angst, dann der Satz, dann, daß wir diesen Satz möglicherweise nicht mehr im Kopf haben, wenn wir ihn aufschreiben wollen. Sehr oft schreiben wir einen Satz zu früh auf, dann wieder einen zu spät ; wir haben den Satz zu dem richtigen Zeitpunkt aufzuschreiben, sonst ist er verloren. Meine Arbeit über Mendelssohn Bartholdy ist ja eine literarische , sagte ich mir, keine musikalische , während es doch durch und durch eine musikalische ist. Wir lassen uns von einem Thema fesseln und sind viele Jahre lang davon gefesselt, Jahrzehnte, und lassen uns unter Umständen von einem solchen Thema erdrücken. Weil wir es nicht früh genug angehen oder weil wir es zu früh angegangen haben. Die Zeit macht uns alles zunichte, gleich, was wir tun. Ich
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