Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien
Autoren: AMANDA MCCABE
Vom Netzwerk:
ist aus Marmor und lebensgroß. Es sei denn, der Liliendieb ist Herkules.“
    In diesem Augenblick lehnte sich Lord Westwood an eine Säule am Rand des Auditoriums. Als Calliope ihn entdeckte, zwinkerte er ihr zu, und sie errötete.
    „Warst du allein im Wintergarten?“, fragte Clio. „Oder hast du dich wieder mit ihm gestritten?“
    „Ich streite mich nie … außer mit Thalia und dir. Ihr seid meine Schwestern, das ist etwas anderes. Lord Westwood und ich haben lediglich unsere Standpunkte über die Kunst ausgetauscht.“
    Zum Glück hob Lady Russell in diesem Augenblick zu ihren einleitenden Worten an. Sonst teilte Calliope ihre Gedanken gerne mit Clio, die eine großartige Zuhörerin war, aber sie sah keinen Sinn darin, ihrer Schwester ihr derzeitiges Gefühlschaos anzuvertrauen. Die einzige Lösung bestand darin, diesen Mann zu meiden. Wenn er doch nur wieder nach Griechenland verschwände …
    Lady Russell erklärte, dass die Instrumente für die Uraufführung der Rekonstruktion einer delphischen Hymne an Apoll große Ähnlichkeiten mit jenen auf der großen schwarzgrundigen Amphore hatten, die sie nun von zwei Dienern hereintragen ließ. Dieses bekannte Prunkstück ihrer Sammlung war bis auf einen fehlenden Henkel hervorragend erhalten, zeigte ein Fest mit eleganten Tänzern, Musikern und liegenden Zechern und wäre, wie Calliope auffiel, für den Liliendieb geradezu die ideale Beute.
    „Schade, dass sie uns nicht gezwungen hat, in solchen Chitonen zu erscheinen“, wisperte Clio. „Vor allem den alten Lord Erring mit seinen dreihundert Pfund. Aber wahrscheinlich gibt es in ganz London nicht so viel Leinen.“
    Calliope hielt sich kichernd das Programm vors Gesicht. Ihr fiel nur ein einziger Mann ein, der in diesem antiken Gewand nicht lächerlich ausgesehen hätte. Sie warf Lord Westwood einen raschen Blick zu und war erstaunt, wie melancholisch er wirkte, als er die Amphore betrachtete: ein unglücklicher Apoll.
    Cameron sah dem prächtigen Gefäß nach. Was für eine Tragödie: Genau wie Lady Tenbrays etruskisches Diadem war es seiner Heimat entrissen worden, es hatte seine ursprüngliche Bestimmung eingebüßt und war zur Attraktion elitärer Feste verkommen.
    Aber viel mehr beschäftigte ihn im Moment eine der sorgfältig ausgearbeiteten Frauengestalten, die die Amphore zierten. Die schlanke, in eine fließende, elegant gefältelte Robe gekleidete Figur beugte sich über eine Leier. Ein Stirnband hielt ihr die üppigen dunklen Locken aus dem ovalen Gesicht. Sie wirkte ernster als die ausgelassenen Tänzer um sie herum und schien ganz von ihrer Musik, ihren Gedanken und Gefühlen absorbiert zu sein. Ihre Figur, der Ernst, die Konzentration: Man konnte meinen, der antike Künstler habe Calliope Chase porträtiert.
    Als das Stück einsetzte, warf er Calliope einen Blick zu. Sie betrachtete die Musiker mit glänzenden Augen, als erwache das alte Griechenland für sie gerade zu neuem Leben. Genauso war es ihm auf seiner Reise gegangen: Überwucherte Ruinen waren vor seinem inneren Augen wieder zu jenen Stätten brodelnden Lebens geworden, die sie einst gewesen waren, voller lachender, rufender, streitender und liebender Bewohner, die einige der großartigsten Kunstwerke der Menschheit geschaffen hatten.
    Obwohl Calliope Chase diese Fantasie offenbar mit ihm teilte, verstand er sie nicht: Wenn sie wirklich sah, was er sah, warum begriff sie dann nicht, dass diese Objekte in England nichts verloren hatten?
    Sie war schön wie die Leierspielerin auf der Amphore, intelligent und temperamentvoll. Aber auch störrisch wie ein griechischer Maulesel!
    Kurz trafen sich ihre Blicke, und er sah, dass ihr vor Ergriffenheit fast die Tränen in den Augen standen. Dann verbarg sie ihre Empfindsamkeit wieder hinter der Maske der Vernunft und wandte sich ab, sodass er nur noch schwarze Locken und einen weißen Nacken sah. Er stellte sich vor, wie es wäre, die Lippen auf diesen Hals zu legen und dann weiterwandern zu lassen, bis sie erbebte und aufseufzte, ihre Maske fallen ließ und ihm ihr wahres Ich enthüllte.
    Doch wie sähe dieses wahre Ich wohl aus? War sie wirklich eine Muse oder doch eher eine zerstörerische Gorgo? Nur ein Wahnsinniger würde sich eine der Chase-Musen aufbürden, und Cameron hatte nicht vor, so bald den Verstand zu verlieren. Auf einmal wurden ihm die Musik, die Hitze und die seltsame Faszination, die Calliope Chase auf ihn ausübte, zu viel. Er zog sich ins Foyer zurück, wo einige Diener
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher