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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien
Autoren: AMANDA MCCABE
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Schriftführerin, wird das Protokoll anfertigen.“
    Peu à peu wurden alle Teetassen und Kuchenteller abgestellt, und die Mitglieder der Gesellschaft schenkten ihrer Gründerin und Präsidentin ihre Aufmerksamkeit. Wie um die frostige Düsternis der letzten Nacht vergessen zu machen, fiel warmes Sonnenlicht durch die hohen Fenster in den Salon des Chase’schen Stadthauses und brachte die pastellfarbenen Kleider der anwesenden Damen zum Leuchten. Nichts in dem elegant eingerichteten Zimmer fiel aus dem Rahmen: die luftigen Sitzgruppen aus Stühlen und kleinen Sofas, auf denen die Gäste Platz genommen hatten, das Teeservice, das Silber, die aufmerksamen Hausmädchen im Hintergrund, die sanften Mozartklänge des Pianofortes in der Ecke – alles stilvoll und angemessen.
    Alles bis auf die Statue. Hinter Calliope stand ein marmorner Apoll auf seinem Postament, ein anatomisch vollkommener und gänzlich nackter Apoll. Aber im Haus eines bekannten Altertumsforschers wie Sir Walter Chase, der seine neun Töchter nach den griechischen Musen benannt hatte, war dies nicht weiter verwunderlich. In diesem Umfeld konnten sie nach Herzenslust ihren nicht immer ganz damenhaften Interessen nachgehen.
    Calliope, mit 21 Jahren die älteste der Chase-Musen, war ein gutes Beispiel. Das schwarze Haar, die braunen Augen und die makellose helle Haut hatte sie von ihrer verstorbenen französischen Mutter geerbt, und ihre Schönheit hatte – im Verbund mit dem Chase’schen Vermögen – etliche begehrte Junggesellen angelockt. Doch sie hatte allen Verehrern die kalte Schulter gezeigt, da diese sich nicht für die Antike interessierten, und ihr Vater war ganz ihrer Meinung gewesen: Banausen kamen für die Chase-Musen einfach nicht in Frage.
    Sie gab auch nicht viel um Mode oder Tanzen oder Kartenspiel und verbrachte ihre Zeit lieber mit der Lektüre oder im gelehrten Gespräch mit Gleichgesinnten.
    Vor allem deshalb hatte sie die Gesellschaft der kunstverständigen Damen gegründet: damit ihre Schwestern und sie sich mit anderen Frauen austauschen konnten, die mehr als Kleiderstoffe und Hüte im Kopf hatten. „Wir sind doch sicher nicht die einzigen Wesen in London“, hatte sie ihrer Schwester Klio erklärt, „die am liebsten ihre Bücher zu Almack’s mitnehmen würden, um sich die Langeweile zu vertreiben.“
    Und da saßen sie nun. Zu den Mitgliedern zählten neben den drei ältesten Chase-Töchtern zwei ihrer Freundinnen; die sechs jüngeren Schwestern gingen noch zur Schule und hatten daher erst Kandidatinnenstatus. Es gab auch eine Warteliste, aber Calliope hatte den Verdacht, dass die meisten der jungen Damen nur einen Blick auf den Apoll werfen wollten. Während der Saison trafen sie sich einmal in der Woche zu Gesprächen über Geschichte, Literatur, Kunst und Musik. Oft besorgte ihr Vater ihnen einen Gastredner, oder ein Maler stellte sein Werk vor. Manchmal blieben sie unter sich und redeten über ein Buch, das sie gelesen, oder eine Oper, die sie gehört hatten, oder die musikverliebte Thalia, die dritte Chase-Tochter, intonierte ein skandalös leidenschaftliches Beethovenstück.
    Heute jedoch gab es etwas Ernstes zu besprechen, und als die anderen Calliope in ihrem weißen Musselinkleid so steif und aufrecht dasitzen sahen, verstummten sie prompt. Sogar Thalia nahm die Finger von den Tasten des Pianos und wandte sich ihrer Schwester zu.
    Calliope hielt ein Exemplar der Post hoch, um auf eine Schlagzeile aufmerksam zu machen: Der Liliendieb ist wieder da!
    „Es ist etliche Wochen her, dass dieser Verbrecher zuletzt zugeschlagen hat“, sagte sie. Zwar sprach sie leise, aber die Röte ihrer Wangen verriet den anderen, wie wütend sie war. Sie hatte gehofft, der Liliendieb sei ebenso in der Versenkung verschwunden wie so viele andere kurzlebige Gesellschaftsskandale: Zwei Tage helle Aufregung, dann musste ein neues Thema her, ein durchgebranntes Pärchen oder eine Affäre. „Vermutlich hatte er Angst, dass seine Missetaten in Vergessenheit geraten.“
    Klio blickte von ihren Notizen auf, und über ihrem vergoldeten Brillengestell wurde eine rotbraune Braue sichtbar. Doch sie sagte nichts und schrieb weiter. Es war Lady Emmeline Saunders, die das Schweigen brach. „Vielleicht hat der Liliendieb aber auch ehrenhafte Motive.“
    „Ehrenhaft wie Profitgier?“, rief Thalia vom Piano herüber. Mit ihren glänzenden, goldenen Locken wirkte sie sehr weiblich, aber sie hatte das Herz eines Gladiators, was sie oft genug in die
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