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Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)

Titel: Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Autoren: Thomas Müller
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halbe Umdrehung, die er noch mit seinem Löffel in seinem Glas zog, aber mit dem einfachen Satz: „Ja, wenn es Ihnen so wichtig ist!“ nahm er sein Glas und leerte es in einem Zug. Jetzt war er mir ebenbürtig, aber jetzt wollte ich nicht mehr warten. Ich bedankte mich bei ihm, stand auf und ging.

53.

    Als die schwere eiserne Türe, welche mit nahezu unsichtbarem, dickem Glas ausgefüllt war, schwer ins Schloss fiel und ich meinen Fuß in den Innenhof setzte, hätte es nicht kitschiger sein können, dass auf jenem Abschluss der Backsteinmauer eben jene Taube wieder auftauchte, die ich vor ein paar Stunden beobachtet hatte. Sie stieß sich gerade von der Mauer ab und glitt, ein paar Kurven ziehend, einem Rodler im Eiskanal gleich, der sich zwar immer nach unten bewegt, aber sich in den Kurven manchmal in der Längsachse drehend nach oben und nach unten bewegt – ein paar Kurven ziehend glitt die Taube in den Innenhof, stellte die Vorderkanten ihrer Flügel etwas auf, hüpfte zweimal und blieb stehen. Das Hüpfen war mir vertraut und erinnerte mich an die ursprüngliche Annahme des verkrüppelten Fußes. Einmal mehr war es ihr Verhalten, das es mir ermöglichte, sie zu identifizieren. Verhalten ist eben bedürfnisorientiert – oder körperlich bedingt? Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ich durchschritt den Innenhof, holte meine Sachen bei der Eingangspforte und verließ den gewaltigen Backsteinbau, indem ich mich über die auf der Vorderseite parallel angeordneten und links und rechts von der Eingangstüre nach unten führenden Stiegen vom Gebäude entfernte. Dort unten stand ein strahlender Gunther Scholz, der mich zunächst etwas verwundert ansah und dann lapidar, aber doch etwas ironisch bemerkte: „Herr Müller, Sie haben eine Farbe, als ob Sie mit Lutz Reinstrom drei Stunden in der Sauna gesessen wären.“
    Er verstand nicht, warum ich über diesen Witz nicht lachen konnte. Freudestrahlend teilte er mir mit, dass er die Zeit genützt hatte, um die defekte Sicherung auszutauschen, die in den frühen Morgenstunden dazu geführt hatte, dass die Heizung in seinem Auto nicht funktionierte. Schweigend öffnete ich die Motorhaube, griff zielsicher auf jene neue Sicherung, die noch nicht beschmutzt war, zog sie heraus, drängte Gunther Scholz mit einem freundlichen Nicken auf den Beifahrersitz, startete den Motor und fuhr weg. Die Sicherung schob ich in meine Brusttasche, lächelte ihn kurz an und schwieg.
    Wenn er als Regisseur und feinfühliger Mensch etwas verstand, dann war es, Situationen zu erfassen und entsprechend darauf zu reagieren. Denn auch er schwieg und erst lange, nachdem wir Hamburg hinter uns gelassen hatten und auf der Autobahn Richtung Bremen fuhren, meinte er: „Warum machen Sie das eigentlich alles, Herr Müller? Die Vorträge, die Untersuchungen, die Fallbearbeitungen, all die kleinen Schritte, einschließlich der Gespräche so wie jenes, das Sie heute geführt haben?“ Ich schwieg noch ein paar Minuten und entgegnete ihm dann: „Wissen Sie, Herr Scholz, wenn all diese Dinge, die ich und viele andere in den letzten Jahren getan haben, nur ein einziges Delikt verhindern konnten, dann war es das alles wert. Eine einzige Vergewaltigung, einen einzigen sexuellen Missbrauch, möglicherweise ein einziges Tötungsdelikt, indem wir zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen an die richtige Person heranbringen konnten. Gewisse Dinge sind eben nicht verhinderbar, aber wenn wir alleine mit der Förderung der Kommunikation, mit der Weitergabe der entsprechenden Daten an jene Personen, die sie brauchen, nur einmal etwas verändern können, dann hat es sich gelohnt.“
    Er schwieg, setzte dann nachdenklich, aber bestimmt entgegen: „Aber das werden Sie ja nie erfahren, Herr Müller. Eine Frau, die nicht vergewaltigt wurde, ein Kind, das nicht geschändet, und ein Mann, der nicht umgebracht wurde; es wird sich niemand bei Ihnen oder Ihren Kollegen rühren und sich dafür bedanken, dass es nicht passiert ist. Er weiß es ja selbst nicht.“
    Dieser großartige Mensch mit seiner einzigartigen Lebenserfahrung hatte wieder einmal recht.
    Aber das machte nichts. Jeder Mensch hat einen Traum, den zu verfolgen sich allemal lohnt.

    Triesen, Luzern 2004

Epilog

    Das Gespräch mit Lutz Reinstrom fand am 17.10.2003 in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel in Hamburg statt. Lutz Reinstrom hatte nie die Absicht, Dr. Thomas Müller in irgendeiner Weise zu beunruhigen, zu verletzen oder gar zu
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