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Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Titel: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Autoren: Alois Prinz
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wird die besondere Rolle der Juden zu einer persönlichen Erfahrung. Wie Max Fürst wird sie »auf der Straße«, durch Bemerkungen von Kindern, darüber aufgeklärt, dass sie Jüdin ist. Im Hause Arendt fällt nie das Wort »Jude«. Martha Arendt hat keinen Sinn für Religion, schon gar nicht für die jüdische. Sie interessiert sich für Musik, für sozialistische Ideen und die Frauenbewegung, sie legt Wert auf gepflegte Geselligkeit, sucht den Kontakt zu nicht-jüdischen Familien und hält ihre Tochter an, sich mit der klassischen deutschen Literatur und Musik zu beschäftigen. Wenn Hannah etwas über ihre Religion erfährt, dann nur durch den Religionsunterricht beim Rabbiner Vogelstein oder über ihre Großmütter.
    Martha Arendt hat zwar keinen Bezug zu ihrer jüdischen Herkunft, es kommt ihr aber auch nicht in den Sinn, diese Herkunft zu verleugnen. Das ist für sie eine Frage des Stolzes. Und diese Einstellung erwartet sie auch von ihrer Tochter. »Ich nehme an«, erklärt Hannah in einem späteren Interview, »sie würde mich links und rechts geohrfeigt haben, wäre sie je dahinter gekommen, dass ich etwa verleugnet hätte, Jüdin zu sein.« 4 Genauso entschlossen, wie Martha Arendt zu ihrem Jüdischsein steht, wehrt sie sich auch gegen jede Benachteiligung, die daraus entsteht. So hat Hannah klare Anweisungen für den Fall, dass ein Lehrer in der Schule antisemitische Bemerkungen fallen lässt, egal gegen wen. Sie muss dann sofort aufstehen, die Klasse verlassen und nach Hause kommen. Und zu Hause schreibt Martha Arendt dann einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe an die Schulleitung.
    Hannah fühlt sich von ihrer Mutter »absolut geschützt«. Sie erlebt aber auch, dass andere Kinder diesen Schutz nicht erfahren und ihre »Seelen« durch den Antisemitismus »vergiftet« werden. 5 Besonders in den gutbürgerlichen deutsch-jüdischen Familien wird das Erbe der Väter mitgeschleppt wie eine Auszeichnung, die man schlecht zurückweisen kann und die man doch am liebsten loswerden möchte. Und so hält man widerwillig, mit innerer »Verbissenheit« daran fest; und gleichzeitig ist aller sozialer Ehrgeiz darauf gerichtet, in einer nicht-jüdischen Gesellschaft anerkannt zu werden und es so weit wie möglich zu bringen. Diese Mischung aus »Verbissenheit im Innern« und »Selbstgefühl nach außen«, so sieht es Hannah Arendt später, macht blind für Tatsachen wie den Judenhass, wozu die Wohlhabenheit dieser Schichten noch beiträgt. Gerade für Kinder sei diese Atmosphäre der Unsicherheit und Befangenheit sehr bedrückend. Und zustimmend zitiert sie Franz Kafka, der über »die dumpfe, giftreiche, kinderauszehrende Luft des schön eingerichteten Familienzimmers« klagt. 6
    Am 1. August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Entzündet hat sich der militärische Flächenbrand an der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo. Österreich erklärte daraufhin Serbien den Krieg und brachte damit Russland gegen sich. Deutschland versicherte dem alten Verbündeten Österreich seinen Beistand, aber statt an der Ostfront aktiv zu werden, plante der deutsche Generalstab unter General Moltke einen Angriff im Westen, gegen den Erzfeind Frankreich. Gemäß dem berühmt-berüchtigten »Schlieffen-Plan« sollten die deutschen Truppen über Belgien angreifen, um den Aufmarsch der Franzosen an der Ostgrenze zu umgehen. Diese Strategie brachte England auf den Plan. Eine Besetzung Belgiens und damit eine Erweiterung des deutschen Machtbereichs bis zum Kanal konnte das Inselreich nicht hinnehmen.
    In Königsberg verkünden rote Plakate an den Anschlagsäulen erst die Mobilmachung, dann die Kriegserklärungen. Es herrscht bei der ganzen Bevölkerung eine nie gekannte Kriegsbegeisterung. Die Kasernen werden überschwemmt von Kriegsfreiwilligen. Darunter ist auch der jüngste Freiwillige des deutschen Heeres, der 14jährige Obertertianer Scheyer vom Löbenichter Realgymnasium, das auch Max Fürst besucht.
    Die Rolle der Juden im kriegsbegeisterten Deutschland entspricht ganz ihrer zwiespältigen Stellung in der Gesellschaft. Für viele eingesessene jüdische Mitbürger ist es selbstverständlich, für Deutschland ins Feld zu ziehen. In Königsberg werden bis Kriegsende 820 jüdische Bürger einberufen. Dagegen wird ein großer Teil der nicht eingebürgerten russischen Juden als Feind betrachtet, man verfrachtet sie in Eisenbahnwaggons und bringt sie ohne Angabe von Zielen aus der
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