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Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Titel: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Autoren: Alois Prinz
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Verlangen, dass man sich mit ihm beschäftige.«
    Martha Arendt wollte es so lange wie möglich vermeiden, ihren Mann in einem Krankenhaus unterzubringen. Aber Paul Arendts Zustand verschlimmert sich dramatisch. Im Sommer 1911 muss er in die psychiatrische Klinik von Königsberg eingeliefert werden. Hannah darf anfangs noch mitgehen, wenn Martha ihren Mann in der Klinik besucht. Aber bald erkennt Paul Arendt seine Tochter nicht mehr und Hannah werden diese Besuche erspart.
    In dieser Zeit wird ihr Großvater Max Arendt für sie immer wichtiger. Er macht mit seiner kleinen Enkelin Spaziergänge in die »Glacis«, wie die Wäldchen vor den Wällen heißen. Und samstags nimmt er sie manchmal mit in die Synagoge. Auf diese Weise kommt Hannah Arendt zum ersten Mal in Berührung mit ihrer Religion.
    Das Jahr 1913 bringt schwere Schicksalsschläge für das Haus Arendt. Im März stirbt Max Arendt. Obwohl Hannah ihn über alles geliebt hat, reagiert sie merkwürdig unberührt. Sie verfolgt den Leichenzug vom Fenster aus und ist stolz, dass so viele Leute ihren »Opi« zum Friedhof begleiten. In der darauf folgenden Zeit erwähnt sie den Großvater mit keinem Wort mehr und ist so unbeschwert, dass es selbst der Mutter nicht geheuer ist. Es scheint, als könne ihr heiteres Gemüt durch nichts getrübt werden. Aber dann lässt sie ganz unvermittelt wieder Bemerkungen fallen, die verraten, dass die Ereignisse sie doch beschäftigen. »Man muss an traurige Dinge so wenig wie möglich denken«, erklärt sie ihrer Mutter, »es hat doch keinen Sinn, dadurch traurig zu werden.«
    Im Oktober stirbt Paul Arendt. Wiederum reagiert Hannah nach außen hin fast gleichgültig. Sie weint auf der Beerdigung, aber nur, »weil so schön gesungen wird«. Wieder ist es die kleine Hannah, die meint, ihre Mutter trösten zu müssen. »Denke daran, Mutti«, erklärt sie, »dass das noch vielen Frauen passiert.«
    Für Hannah ist es eine gewisse Ablenkung von den traurigen Ereignissen, dass sie seit August 1913 in die Schule geht. Von offizieller Seite wird wenig für die Ausbildung von Mädchen getan. In Königsberg gibt es 1913 für Mädchen keine einzige staatliche Schule und nur eine städtische, die Luisenschule. Dagegen gibt es zehn höhere Knabenschulen, fünf davon sind Gymnasien. Die so genannten höheren Töchterschulen sind private Institute, die von engagierten Frauen eingerichtet werden. Sie dürfen sich zwar auch »Lyceum« nennen, stehen aber im Rang einer Mittelschule.
    Hannah Arendt besucht die Schule der Elvira Szittnick, die aus einem Privatzirkel hervorgegangen ist. Das Gebäude steht in der Hindenburgstraße, einer Parallelstraße zur Tiergartenstraße. Hannah ist ihren Mitschülerinnen weit voraus, sie kann bereits fließend lesen und schreiben. An ihrer Lehrerin hängt sie sehr. Vielleicht auch deshalb, weil sie oft lange Zeit auf ihre Mutter verzichten muss. Martha Arendt unternimmt nach dem Tod ihres Mannes eine zehnwöchige Reise nach Paris. Um Hannah kümmern sich die beiden Großmütter, Fanny Spiro und Klara Arendt. Als Martha Arendt im Winter zurückkehrt, bleibt sie nur kurz. Bald reist sie wieder ab zur Kur nach Karlsbad und dann weiter nach Wien und London. Immer wenn sie nach Königsberg zurückkehrt, stellt sie die Reaktion ihrer Tochter vor Rätsel. Sie weiß nie, ob sich das Kind freut sie wieder zu sehen oder nicht. Wahrscheinlich weiß Hannah es selbst nicht.
    Erst viele Jahre später ist Hannah Arendt fähig, etwas Licht in die dunkle Verwirrung ihrer Kinderjahre zu bringen. Als ihre Mutter im Juli 1948 stirbt, schreibt Hannah an ihren Mann Heinrich Blücher:
    »Ich habe meine ganze Kindheit und halbe Jugend aber doch mehr oder weniger so getan, als ob es für mich das Leichteste und Selbstverständlichste auf der Welt sein würde, sozusagen das Natürliche, allen Erwartungen zu entsprechen. Vielleicht aus Schwäche, vielleicht aus Mitleid, aber ganz sicher, weil ich mir nicht zu helfen wusste.« 2

II. Jüdin in Königsberg
»Dass ich Jüdin bin, erfuhr ich auf der Straße.«
    In Königsberg, in der Münzstraße, ganz in der Nähe vom Schloss, wohnt die Familie Fürst mit ihren drei Kindern Lisbeth, Edith und Max. Julius Fürst, das Oberhaupt der Familie, hat ein Herrenartikelgeschäft nahe der Grünen Brücke. Max, das jüngste der Fürst-Kinder, ist kaum ein Jahr älter als Hannah Arendt. Als Max eines Tages durch die Stadt schlendert, sieht er folgende Warnung auf eine Mauer geschmiert: »Jude ohne Vorhaut,
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