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Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Titel: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Autoren: Alois Prinz
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»schwierig« und »undurchsichtig« zu werden.

III. Wissenshunger
»Ich war gewohnt, das Leben zu doppeln: in ein Hier und Jetzt und Dann und Dort.«
    »Friede wird, wenn der Wilhelm in Zylinder geht und die Auguste nach Kartoffeln steht.« So kann man die Leute in Königsberg reden hören, wenn sie in langen Schlangen vor den Geschäften anstehen, weil die Lebensmittelmarken nicht ausreichen. Dass der gottgegebene Kaiser und seine Gattin Auguste einmal abdanken könnten, das ist genauso unvorstellbar wie eine Mahlzeit, bei der etwas anderes auf den Tisch kommt als immer nur die verhassten Steckrüben. Viele wünschen sich, dass der Krieg endlich ein Ende hat, aber wer wie die Sozialdemokraten öffentlich gegen den Krieg demonstriert oder daran zweifelt, dass die Deutschen letztendlich den Sieg davontragen, der gilt als »vaterlandsloser Geselle«.
    Am 3. Oktober 1918 bietet die deutsche Regierung dem amerikanischen Präsidenten einen Waffenstillstand an. Für den Großteil der Bevölkerung ist diese Nachricht ein Schock, denn von der Front war immer nur von Siegen berichtet worden. Es verbreitet sich die Meinung, dass die neue sozialdemokratische Regierung einen billigen Verständigungsfrieden herbeiführen wolle und den tapferen Soldaten an der Front in den Rücken gefallen sei. Diese so genannte »Dolchstoßlegende« wird sich noch lange halten, obwohl die meisten Soldaten wirklich kriegsmüde sind und sich mit der drohenden Niederlage abgefunden haben. Der Konflikt zwischen jenen, die den Krieg nicht verloren geben, und jenen, die ihn beenden wollen, führt schließlich zu einer Revolution. Ausgelöst wird sie am 4. November durch meuternde Matrosen in Kiel, die sich weigern, noch einmal in eine Seeschlacht gegen die englische Flotte zu ziehen. Die Matrosen bilden nach russischem Vorbild so genannte Räte und in wenigen Wochen breitet sich die Revolution über das ganze Deutsche Reich aus. Der Kaiser flieht in der Nacht vom 9. auf den 10. November nach Holland ins Exil, nachdem am 3. November das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden ist.
    Auf die Nachricht von den Aufständen in Kiel und anderen Städten finden in Königsberg spontane Versammlungen von Arbeitern und Studenten statt. Unter anderem wird die Freilassung von Gefangenen gefordert. Eine riesige Menschenmenge zieht in Richtung Militärgefängnis, aber es kommt zu keinen gewalttätigen Zusammenstößen. Eine Gruppe von Aufständischen dringt in die Wohnung des stellvertretenden Kommandierenden, General von Dickhut-Harrach, ein, der ohne Widerstand seinen Säbel aushändigt. Nachdem mehrere Kasernen aufgelöst worden sind, werden Soldatenräte gewählt, sie beziehen ihr Hauptquartier im Königsberger Schloss.
    Martha Arendt nimmt mit Begeisterung an den Ereignissen teil. Sie hat das Gefühl, Zeugin historischer Vorgänge zu sein, und mit ihren gleich gesinnten Freunden führt sie hitzige Diskussionen, zu denen sie auch ihre Tochter Hannah mitnimmt. Martha Arendts Interesse gilt weniger konkreten politischen Fragen, sie ist fasziniert von der Persönlichkeit der Kommunistin Rosa Luxemburg, die sie zur lebenden Legende verklärt. Gerührt erzählt sie Hannah von der Vogel- und Blumenfreundin Luxemburg, von der sich nach einer Inhaftierung die Gefängniswärter unter Tränen verabschiedeten. 1
    Das Leben der Rosa Luxemburg nimmt kein romantisches Ende. Sie und ihr Gefährte Karl Liebknecht werden im Januar 1919 von Freikorpsangehörigen ermordet, und damit ist der Revolution in Deutschland das Rückgrat gebrochen. Auch in Königsberg wird dem revolutionären Spuk bald ein Ende gemacht. Am 4. März wird die Stadt vom »bolschewistischen Terror« befreit. Hunderte von Aufrührern werden verhaftet, und das Schloss, in dem sich die Anführer verschanzt haben, wird gestürmt, es gibt viele Tote und Verletzte.
    Hannah nimmt diese geschichtlichen Ereignisse nur am Rande wahr. Sie ist zwar schon zwölf Jahre alt und geht auf die Königin-Louise-Schule, kurz Luisengymnasium genannt, das erste Mädchengymnasium in Ostpreußen, aber für die aktuelle Politik interessiert sie sich nicht. Ihr Wissensdurst geht in eine andere Richtung. Aus der umfangreichen Bibliothek ihres verstorbenen Vaters verschlingt sie alles, was ihr unter die Hände gerät: Romane, Gedichte, philosophische Werke, vieles davon lernt sie auswendig. Sie liest Die Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant und das Werk des deutschen Philosophen Karl Jaspers, die Psychologie der
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