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Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

Titel: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
Autoren: Alois Prinz
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schockiert. So gibt sie sich keine Mühe zu verheimlichen, dass sie mit dem fünf Jahre älteren Ernst Grumach mehr verbindet als nur philosophische Gespräche, und sorgt damit in Königsberg für einen kleinen Skandal. Dieser Ernst Grumach ist es auch, der ihr von einem ganz ungewöhnlichen Mädchen namens Anne Mendelssohn erzählt, und Hannah beschließt, sie unbedingt kennen zu lernen. Sie lässt sich auch nicht von der Tatsache abhalten, dass Anne Mendelssohn in Allenstein, einer Stadt westlich von Königsberg wohnt und ihr Vater wegen eines Sittlichkeitsdelikts im Gefängnis sitzt. Heimlich schleicht sie sich nachts aus dem Beerwaldschen Haus, fährt mit dem Zug nach Allenstein und weckt die Mendelssohns auf, indem sie Steinchen gegen die Hausfenster wirft. So lernt Hannah Anne Mendelssohn kennen, und es wird eine lebenslange Freundschaft daraus entstehen.
    Hannah hat Lust am Rebellieren und sie nutzt jede Gelegenheit dazu. Um ihrem Lehrer in jüdischer Religion »etwas Schreckliches« 7 anzutun, steht sie während des Unterrichts auf und bekennt, dass sie nicht an Gott glaube. Aber Rabbi Vogelstein ist souverän genug, sich nicht von einer vorlauten Göre aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Er reagiert nicht empört, sondern entgegnet erstaunt: »Wer hat das von dir verlangt?«
    Aber nicht immer bringen Hannahs Lehrer die gleiche Geduld für das schwierige Mädchen auf. Als sich die Fünfzehnjährige von einem jungen Lehrer am Gymnasium beleidigt fühlt und ihre Mitschüler auffordert, dessen Unterricht zu boykottieren, ist für die Schulleitung das Maß voll. Hannah wird von der Schule verwiesen, auch alle Proteste der Mutter helfen da nichts mehr. Jetzt zeigt sich aber, mit welchem unbedingten Zutrauen Martha Arendt hinter ihrer Tochter steht. Sie denkt nicht daran, Hannahs Schulverweis einfach hinzunehmen. Sie will alles in Bewegung setzen, damit sie die Schule zu Ende bringen kann. Aber solange noch keine Lösung in Sicht ist, nutzt sie ihre weit reichenden Beziehungen, und sie erreicht, dass ihre Tochter auch ohne Abitur einige Semester an der Berliner Universität studieren kann.
    Hannah zieht also in die deutsche Hauptstadt, »ins Reich«, wie man in Königsberg sagt, nachdem als Folge des verlorenen Krieges Ostpreußen durch einen polnischen Korridor vom Rest Deutschlands getrennt ist. In Berlin lebt Hannah sehr eigenständig, sie hat auch ein eigenes, kleines Zimmer. An der Universität besucht sie Kurse in Latein und Griechisch, aber die nachhaltigsten Eindrücke hinterlässt bei ihr ein junger Theologe, der erst seit kurzem an der Berliner Universität lehrt, es ist Romano Guardini. Guardini, ein deutscher Gelehrter mit italienischer Abstammung, verkörpert jene Art des Lehrers, von dem Hannah in ihrem Leben immer wieder angezogen werden wird. Mit seinem Programmwort »Die Kirche erwacht in den Seelen« vermag er auch Menschen zu erreichen, die sich von der Institution Kirche entfernt haben. Guardini doziert nicht, sondern er macht Wissen lebendig, und was Hannah am meisten fasziniert: er ist kein engstirniger Theologe, sondern bezieht in seine Gedanken Philosophie, bildende Kunst und vor allem Dichter wie zum Beispiel Dostojewski und Rilke mit ein.
    Während Hannah in Berlin ihren Hunger nach Erfahrungen und geistigen Abenteuern stillt, setzt ihre Mutter in Königsberg alle Hebel in Bewegung, um ihrer Tochter doch noch den Schulabschluss zu ermöglichen. Und sie hat Erfolg. Es wird Hannah die Chance eingeräumt, als Externe, unter verschärften Bedingungen, das Abitur abzulegen. Im Frühjahr 1924, ihrer alten Klasse um ein Jahr voraus, unterzieht sie sich den Prüfungen und besteht mit glänzendem Erfolg. Als Zeichen der Anerkennung wird ihr sogar eine Goldmünze überreicht.
    Mit dem Abitur geht für Hannah ein Lebensabschnitt zu Ende. Ihr Abschied von Königsberg steht bevor, aber an ihrem Lebensgefühl hat sich nicht viel geändert. Mit einer »erschreckenden Selbstverständlichkeit« hat sie sich angewöhnt, ihr Leben aufzuspalten, »in Hier und Jetzt und Dann und Dort«. Das Leben, das sie führt, die Jahre in der Schule, die Erlebnisse in Berlin – das alles hat etwas Vorläufiges. Sie ist fest überzeugt: Es muss noch ein anderes, ein eigentliches Leben geben, das auf sie wartet. Hannah schreibt Gedichte, in denen sie diese Ungeduld und die damit verbundene Melancholie einfangen will.
    Die Stunden verrinnen,
die Tage vergehen,
es bleibt ein Gewinnen
das bloße Bestehen. 8
    Mit dem
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