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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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dem Rücken gefesselt, deshalb lief er zu Dalton und wälzte die schwere Leiche seines Onkels herum, um den Schlüsselring von seinem Gürtel zu ziehen.
    Er löste Sadies Knebel und schloss mit zitternden, blutbefleckten Fingern die Handschellen auf. Sie war ganz zerzaust und zitterte. Sobald sie dazu imstande war, riss sie sich den Knebel aus dem Mund, warf ihn weg und kauerte sich an die Wand. Sie spuckte auf den Boden und wischte sich den geschwollenen Mund mit dem Handrücken ab.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Sie warf ihm einen raschen, bitteren Blick zu. »Hast du ihn erschossen? Ich hab einen Schuss gehört.«
    Er nickte und hob den Revolver, wie um es ihr zu beweisen.
    »Ist er tot?«
    »Ja.«
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Er kommt nicht wieder?«
    »Nein. Er ist tot.«
    Sie setzte sich wieder auf den Rand der Matratze, legte die Hände auf die Knie und starrte den Fußboden an, als wäre sie in Gedanken versunken. Dann blickte sie auf und machte Anstalten aufzustehen. »Was ist mit Mr. Gracie? Wir müssen jetzt gehen, sonst schicken sie ihn los, um uns …«
    »Nein. Er ist auch tot.«
    Sadie sank wieder auf die Matratze. »Gott sei Dank. Hast du ihn auch umgebracht?«
    Quinn machte eine hilflose Geste. Er beugte sich vor und legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu trösten, doch sie schüttelte ihn mit verdrießlichem Brummen ab. Sie hob ihre schmutzige Strickjacke vom Boden auf und schlug sittsam die Beine unter, als wartete sie in aller Ruhe auf eine Untersuchung. Sie schien seine Anwesenheit völlig vergessen zu haben, fast wie diese Kriegszitterer, die er in Europa gesehen hatte.
    Quinn setzte sich neben sie. Schweigend starrten sie einen Lichtkeil an, der mit dem Aufsteigen der Morgensonne über die kalten Steine kroch und dabei die verschiedenen Zeichen und Wörter beleuchtete, die in die Wand geritzt waren. Er war überrascht, dass niemand gekommen war, um dem Revolverschuss nachzuspüren, aber vielleicht hatte ihn keiner gehört. Er starrte zu dem winzigen Fenster hinauf, das selbst für einen Hünen außer Reichweite war. Der Himmel war blau, unveränderlich. Quinn wusste, dass es möglich war, sich so elend zu fühlen und trotzdem nicht zu sterben, denn er kannte dieses Gefühl. Kleine, feste Tränen der Verzweiflung rannen eine nach der anderen seine Wange hinab. Er fragte sich, ob ihn sein Herz aus reinem Gram im Stich lassen könnte, so wie vor all den Jahren sein Kehlkopf.
    »Ich habe ständig Engel gehört«, sagte Sadie nach einer Weile und klopfte auf ihr Ohr, als könnte sie die Zauberwesen, die dort hausten, hervorlocken. »Den ganzen Morgen habe ich Engel singen gehört, und ich dachte, sie wollen mich holen.« Sie wischte sich mit dem Handballen über die Augen. »Ich dachte, ich würde sterben. Ich dachte, ich müsste daran sterben.«
    »Tut mir leid. Tut mir leid, dass ich so spät gekommen bin. Ich wusste nicht, wo er dich hingebracht hat. Tut mir wirklich leid.«
    Seufzend wandte sie sich ihm zu. Ihr Blick war tränenverschleiert. »Das ist nicht deine Schuld.« Sie strich sich den Schmutz vom Knie. »Wenigstens hat er mich nicht umgebracht«, sagte sie ohne Überzeugungskraft. »Wenigstens bin ich nicht gestorben.«
    Quinn starrte den Revolver auf seinem Schoß an. Das war wohl immerhin etwas. Er dachte daran, wie die Military Medal träge über den Meeresgrund trieb, sich hier und da in einer Koralle verfing, wie sie auf dem eingeprägten Bildnis von König George Schmutz ansetzte.
    Wieder seufzte Sadie. »Was machen wir jetzt?«
    »Ich weiß nicht genau. Aber wir sollten von hier verschwinden.«
    Der Sonnenstrahl war über den Fußboden gewandert und fiel jetzt auf die matten Basaltsteine vor ihren Füßen. Sadie wackelte in seiner Wärme mit den schmuddeligen Zehen. »Quinn? Ich hab nachgedacht. Ich glaube, mein Bruder kommt nicht mehr zurück. Sonst wäre er längst da.«
    Quinn hustete. »Weißt du, es gibt Geschichten von Soldaten, die zurückkommen, um jemanden zu besuchen. In Frankreich hab ich so was oft gehört. Im Lazarett hab ich einen Mann kennengelernt, der war in einer Schlacht gewesen, in der die toten … die seit Tagen tot im Schützengraben liegenden Soldaten sich plötzlich erhoben und kämpften. Dutzende. Das Bataillon war zahlenmäßig klar unterlegen, und doch gelang es ihnen, Hunderte von Deutschen zurückzuschlagen. Und dieser Mann hat es mit eigenen Augen gesehen. Er war dabei. Im Krieg passieren unglaubliche Dinge. Das ist keine normale
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