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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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den Blick von dem Gehängten loszureißen. Er betrachtete ihn eine Weile. Er verspürte eher Erleichterung als gestillten Rachedurst, hatte nicht das Gefühl, etwas erreicht zu haben.
    Schließlich drehte er sich um und lief davon. Er kletterte über den Zaun, und bei dem Gedanken, dass ihn die Spürhunde verfolgen könnten, bekam er plötzlich panische Angst. Er rechnete damit, dass sie geifernd nach ihm schnappen würden, hörte aber bloß seinen schnarrenden Atem und sein trommelndes Herz.
    Wenig später übermannte ihn ein Hustenanfall, und er sank auf die Knie. Er erbrach sich. Ringsum pfiffen und sangen die Vögel. Der Boden unter seinen Knien war feucht vom Tau und mit Rinde bedeckt. Es war angenehm, die Hände in den darunterliegenden Lehm zu drücken.
    Plötzlich schreckte ihn eine Stimme auf.
    »Das war ein richtiger Scheißkerl, was?«
    Ein paar Schritte entfernt lag ein Soldat, der ungefähr in Quinns Alter war. Seine Stiefel und die Gamaschen waren schlammbespritzt, und er nickte, als wäre es ihm äußerst wichtig, dass Quinn ihm beipflichtete.
    Quinn rappelte sich auf. »Wer bist du?«
    Der Soldat bedeutete ihm, sich zu setzen. »Gib auf dich acht, mein Freund. Du bist doch kein Bekloppter, oder?«
    Quinn setzte sich.
    Der Soldat starrte ihn an. In der kalten Morgenluft konnte man seinen Atem sehen. »Alles in Ordnung?«
    Quinn nickte und deutete mit dem Daumen in die Richtung, aus der er gekommen war.
    »Schrecklich, oder?«, sagte der Soldat.
    »Du hast es gesehen?«
    »Ich war da, ja. Da haben wir wieder einen überlebt, was?« Oben in den Bäumen trillerte ein Vogel ein kurzes, elegantes Lied. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Dein Arm da zittert ganz schön heftig.«
    Erst jetzt merkte Quinn, dass sein linker Arm zuckte, als wollte er sich von der Schulter losreißen. Er klemmte ihn zwischen seine Schenkel. »Nicht verletzt. Das sind bloß die Nerven. Die Granaten, weißt du, das kommt von den Granaten.«
    Der Soldat nickte. Als es hell wurde, sah Quinn, dass sie von Männern umringt waren, die rauchend oder schlafend auf dem Boden lagen. Einige hatten den Kopf oder die Beine bandagiert; andere trugen den Arm in einer provisorischen Schlinge; sie starrten ausdruckslos in die Gegend und zupften an ihrer Haut. Die Luft war vom Gestank von Schlamm und Gas und vom schimmeligen Geruch blutiger Verbände erfüllt. In der Ferne sah er einen mit Leichen, Uniformfetzen, Körperteilen vollgestapelten Karren. Ein Pferd scharrte in der Erde, als ärgerte es sich darüber, dass es sich kein Grab ausheben konnte. Das Grollen der Artillerie war zu hören. In der Nähe weinte jemand. Ein herzzerreißendes Geräusch, so ein weinender Mann. Knallendes Gewehrfeuer. Quinn wischte sich die Hände am Hemd ab. Er musste in Bewegung bleiben, musste von hier verschwinden.
    »Du kennst keinen Burschen, der Shawcross heißt, oder?«, rief der Soldat. »Keith Shawcross?«
    Quinn schenkte ihm keine Beachtung. Wenigstens zitterte sein Arm nicht mehr. Er stand auf und ging zwischen den Toten und Schlafenden hindurch. Der Boden war klumpig, blutverschmiert.
    Der Soldat kaute am Fingernagel. »Dachte ich mir schon. Er war ein Kamerad. Ich hab mich gefragt, ob er’s geschafft hat, das ist alles. Man weiß ja nie, oder? Aber ich glaube, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Dass er ebenfalls Glück hatte.«
    »Glück?«
    »Glück, am Leben zu sein, wie wir. Gib auf dich acht, mein Freund. Da draußen ist es immer noch gefährlich.«
    Es war schon hell, als Quinn halb rennend, halb stolpernd zur Hütte zurückgelangte. Er stellte sich Sadies grimmige Genugtuung über die Nachricht von Gracies Selbstmord vor. Sobald er die Hütte zwischen den Bäumen auftauchen sah, rief er nach Sadie, doch anscheinend hielt sie sich noch unter den Dielen versteckt. Wirklich ein braves Mädchen. Aber als er durch die stinkende Küche stolperte, sah er mit Bestürzung, dass die Bretter, die ihr Versteck bedeckt hatten, herausgerissen waren und ihr Messer nutzlos auf dem Boden lag. Blindes Entsetzen breitete sich in ihm aus. Er rief ein weiteres Mal, um ihr die Angst zu nehmen.
    Dann ließ er sich auf alle viere nieder, um unter den Fußboden zu spähen. »Sadie?« Im zarten Licht sah er vertrocknete Obstschalen, schmutzige Decken, Dutzende von Felsbrocken und kaputten Ziegelsteinen, von denen einige mit bunten Wollfäden umwickelt waren. Er sah einen Haufen Muscheln, eine von ihrem schlafenden Körper in die Erde gedrückte Mulde. Aber keine
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