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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna
Autoren: Karin Slaughter
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jemand sie sah.
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    In strahlendem Sonnenschein trat Sara auf die Straße. Die Luft war inzwischen kühler als noch am Morgen, und die dunklen Wolken kündeten Regen für den späteren Abend an.
    Ein roter Thunderbird fuhr vorüber, aus dessen Fenster ein kleiner Arm hing.
    «Hallo, Doktor Linton», rief ein Kind.
    Sara winkte und antwortete mit einem «He!», als sie die Straße überquerte. Sie nahm ihre Aktentasche von der einen Hand in die andere, als sie quer über den Rasen vor dem College ging. Sie bog nach rechts auf den Gehsteig ein und ging dann weiter in Richtung Main Street. In weniger als fünf Minuten erreichte sie das Esslokal.
    Tessa saß in einer Nische an der gegenüberliegenden Wand des leeren Lokals und aß einen Hamburger. Sie sah nicht gerade erfreut aus.
    «Tut mir Leid, dass ich zu spät komme», entschuldigte sich Sara und ging auf ihre Schwester zu. Sie versuchte es mit einem Lächeln, aber Tessa reagierte nicht.
    «Du hast zwei gesagt. Jetzt ist es schon fast halb drei.»
    «Ich musste noch Papierkram erledigen», sagte Sara zur Erklärung und schob ihre Aktentasche auf die Sitzbank. Tessa war Klempnerin und ihr gemeinsamer Vater Klempner.
    Verstopfte Abflussrohre mochten durchaus keine Lappalien sein, aber Linton & Töchter bekamen nur sehr selten Notrufe, wie sie bei Sara an der Tagesordnung waren. Ihre Familie vermochte sich nicht vorzustellen, wie ein arbeitsreicher Tag für Sara aussah, und man war ständig verärgert über ihre Unpünktlichkeit.
    «Ich hab um zwei im Leichenschauhaus angerufen», klärte Tessa sie auf. Sie knabberte dabei an einem Stück Pommes frites. «Du warst nicht da.»
    Mit einem Seufzer setzte sich Sara und fuhr sich mit den
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    Fingern durchs Haar. «Ich hab nochmal in der Klinik vorbeigeschaut, und dann rief Mama an, und irgendwie ist mir die Zeit davonge laufen.» Sie unterbrach sich und sagte dann, was sie immer sagte: «Tut mir Leid. Ich hätte dich anrufen sollen.» Als Tessa nicht reagierte, fuhr Sara fort: «Du kannst für den Rest des Mittagessens auf mich wütend sein, oder du kannst damit aufhören, und ich geb dir ein Stück Schokosahnetorte aus.»
    «Ich möchte lieber Red-Velvet-Torte», konterte Tessa.
    «Geht klar», erwiderte Sara außerordentlich erleichtert. Es reichte, dass ihre Mutter auf sie wütend war.
    «Wo du von Anrufen sprichst», fing Tessa an, und Sara wusste, worauf sie hinauswollte, bevor ihre Schwester die Frage gestellt hatte: «Von Jeffrey gehört?»
    Sara erhob sich leicht, um mit der Hand in die Tasche zu greifen. Sie zog zwei Fünfdollarscheine hervor. «Er hat angerufen, bevor ich die Klinik verließ.»
    Tessas bellendes Lachen hallte durchs Restaurant. «Was hat er gesagt?»
    «Ich hab aufgelegt, bevor er überhaupt was sagen konnte», antwortete Sara und gab ihrer Schwester das Geld.
    Sara stopfte die Fünfer in die Gesäßtasche ihrer Jeans. «Mama hat also angerufen? Sie war ziemlich stinkig auf dich.»
    «Ich bin auch ziemlich stinkig auf mich», sagte Sara.
    Nachdem sie nun schon zwei Jahre geschieden war, konnte sie ihren Exmann immer noch nicht loslassen. Sara schwankte zwischen Hass auf Jeffrey Tolliver und Hass auf sich selbst. Sie wünschte sich, dass nur ein einziger Tag verging, ohne dass sie an ihn denken musste, ohne dass er in ihrem Leben auftauchte.
    Weder gestern noch heute war ein solcher Tag gewesen.
    Ostersonntag war ihrer Mutter wichtig. Obwohl Sara nic ht sonderlich religiös war, empfand sie es als nicht zu viel verlangt,
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    an einem Sonntag im Jahr Strumpfhosen zu tragen, um Cathy Linton glücklich zu machen. Sara hatte nicht damit gerechnet, dass Jeffrey in der Kirche sein würde. Gleich nach dem ersten Choral hatte sie ihn aus dem Augenwinkel gesehen. Er saß rechts drei Reihen hinter ihr, und sie beide schienen sich gleichzeitig zu bemerken. Sara hatte sich als Erste gezwungen, wieder wegzusehen.
    Wie sie dort in der Kirche saß und den Priester anstarrte, ohne ein einziges Wort zu verstehen, das der Mann sagte, spürte Sara Jeffreys unverwandten Blick im Nacken. Die Intensität dieses Blicks ließ Hitze in ihr aufsteigen, sodass sie errötete. Obwohl sie in einer Kirche saß, ihre Mutter auf der einen Seite und Te ssa und ihr Vater auf der anderen, fühlte Sara, wie ihr Körper auf den Blick reagierte, der von Jeffrey gekommen war.
    Irgendwas war an dieser Jahreszeit, das sie zu einem völlig anderen Menschen gemacht hatte.
    Sie rutschte tatsächlich auf ihrem Platz hin und her,
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