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Belladonna

Belladonna

Titel: Belladonna
Autoren: Karin Slaughter
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rechtzeitig wieder hoch, um zu sehen, wie das Boot auf die überspülten Felsen zuflog. Der Bug traf frontal auf den ersten Felsen und schoss in die Höhe. Das Boot wirbelte durch die Luft, Jeb wurde hinausgeschleudert und klatschte ins Wasser. Seine Hände verkrampften sich hilflos, als er versuchte, sich vor dem Ertrinken zu bewahren. Sein Mund stand offen, seine Augen waren in Todesangst weit aufgerissen, und er schlug mit den Armen um sich, als er unter die
    Wasseroberfläche gezogen wurde. Sie hielt die Luft an und wartete, aber er tauchte nicht wieder auf.
    Jeb war ungefähr drei Meter weit aus dem Boot geschleudert worden, weg von den Felsen. Sara wusste, dass sie es nur ans Ufer schaffen konnte, wenn sie zwischen den Felsen
    hindurchschwamm. Sie konnte auch nur eine begrenzte Zeit Wasser treten, bevor die Kälte sie völlig umfing und hilflos machte. Die Entfernung zum Steg war zu groß. Das würde sie nie schaffen. Der sicherste Weg ans Ufer führte an dem kieloben schwimmenden Boot vorbei.
    Am liebsten wäre sie geblieben, wo sie war, aber Sara wusste
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    sehr wohl, dass das kalte Wasser allmählich ihre Sinne abstumpfen ließ. Die Wassertemperatur war zwar noch nicht nahe am Gefrierpunkt, aber das Wasser war kalt genug, um eine leichte Unterkühlung hervorzurufen, wenn sie nicht bald herauskam.
    Sie schwamm mit langsamen Kraulbewegungen, um
    Körperwärme zu bewahren. Nur ihr Kopf war über Wasser, als sie sich den Weg zwischen den Felsen suchte. Ihr Atem stieg in einer Wolke vor ihrem Gesicht auf, doch sie versuchte, an etwas Warmes zu denken, zum Beispiel daran, vorm Kaminfeuer zu sitzen und Marshmallows zu rösten. An den Hot Tub im YMCA. An die Sauna. An den warmen Quilt auf ihrem Bett.
    Sie änderte die Richtung und schwamm um die andere Seite des Boots herum, abseits von der Stelle, wo Jeb untergegangen war. Sie hatte zu viele Filme gesehen. Sie fürchtete, dass er an die Oberfläche kam, ihr Bein packte und sie mit sich in die Tiefe zerrte. Als sie am Boot vorüberschwamm, konnte sie das große Loch erkennen, das der Fels in den Bug gerissen hatte. Es war gekentert und lag kieloben da. Jeb befand sich auf der anderen Seite und hielt sich am zerfetzten Bug fest. Seine Lippen waren schon dunkelblau; ein starker Kontrast zu seinem kreidebleichen Gesicht. Er zitterte unkontrolliert, und seinen Atem stieß er in kleinen weißen Wölkchen aus. Er hatte in Panik seine Kräfte verschwendet, um seinen Kopf über Wasser zu halten. Die Kälte verringerte seine Kerntemperatur von Minute zu Minute.
    Sara schwamm weiter, bewegte sich aber langsamer. Außer Jebs Atem und den Geräuschen, die ihre Hände im Wasser machten, war auf dem stillen See nichts zu hören.
    «Ich kakakann nicht schwimmen», sagte er.
    «Was für ein Pech», antwortete Sara, deren Stimme fast versagte. Sie hatte das Gefühl, ein verwundetes, aber noch immer gefährliches Tier zu umkreisen.
    «Du kannst mich doch nicht hier zurücklassen», kriegte er
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    zähneklappernd hervor. Sie schwamm jetzt auf der Seite und drehte sich im Wasser, um ihm nur nicht den Rücken
    zuzukehren. «Und ob ich das kann.»
    «Du bist Ärztin.»
    «Ja, das bin ich», sagte sie und entfernte sich immer weiter von ihm.
    «Du wirst Lena niemals finden.»
    Sara hatte das Gefühl, von einer zentnerschweren Last getroffen zu sein. Sie schwamm auf der Stelle und ließ Jeb nicht aus den Augen. «Was ist mit Lena?»
    «Iiich hab sie», sagte er. «Sie ist an einem sicheren Ort.»
    «Das glaube ich dir nicht.»
    Soweit sie erkennen konnte, reagierte er mit einem
    Achselzucken.
    «Was heißt - ein sicherer Ort?», wollte Sara wissen. «Was hast du mit ihr gemacht?»
    «Ich hab sie für dich zurückgelassen, Sara», sagte er. Seine Stimme war wieder da, aber sein Körper begann zu zittern. Sie wusste, dass die zweite Phase einer Hypothermie von unkontrollierbarem Zittern und irrationalen Gedankengängen geprägt war.
    Er sagte: «Ich hab sie irgendwo zurückgelassen.»
    Sara schwamm ein wenig näher heran. Sie traute ihm nicht.
    «Wo hast du sie zurückgelassen?»
    «Du mumumusst sie retten», stammelte er leise und schloss die Augen. Sein Gesicht sank nach vorn, und sein Mund war plötzlich unter der Wasseroberfläche. Er prustete, als er Wasser in die Nase bekam, und klammerte sich noch verzweifelter an das Boot. Ein Knirschen war zu hören, als das Boot am Felsen entlangstreifte.
    Sara wurde es plötzlich ganz heiß. «Wo ist sie, Jeb?» Als er nicht antwortete,
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