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Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 2) (German Edition)

Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 2) (German Edition)

Titel: Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 2) (German Edition)
Autoren: Inka Loreen Minden
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den Kopf. »Vielleicht war es nur Zufall.«
    Zufall? David glaubte nicht an Zufälle. Er würde der Sache auf den Grund gehen.

***

    Über neunzig Meilen später fuhr die Eisenbahn in Dover Town ein . Der A dmirality Pier war hell erleuchtet. David wusste einiges über die Hafenstadt und den mächtigen Pier. Der Grundstein wurde erst vor zwanzig Jahren gelegt. Damals diente Dover der Royal Navy als Zufluchtshafen. Seitdem war die Stadt rasant gewachsen. Schon drei Jahre später nutzten die Fähren den neuen Pier regelmäßig. Er war ein gewaltiger Holzsteg, auf dem es zu dieser späten Stunde lebhaft zuging. Post-und Handelsschiffe wurden beladen, Fracht in Kutschen getragen, überall herrschte reger Betrieb.
    Seit sieben Jahren verband der Pier die Eisenbahnschienen sogar direkt mit den Dampfschiffen. David staunte übe r die gewaltige Leist ung der Konstrukteure, als ihr Zug auf dem 800 Fuß langen Steg ausrollte. Dover Town Station und das angrenzende Hotel waren ebenfalls beleuchtet. Das dreistöckige, massive Gebäude au s rotem Backstein wec kte Erinnerun gen.
    Erneut presste sich Zahar die Nase am Fenster platt. »Das Meer! Sieh nur!«
    David grinste. Er erkannte im Dunkeln die See nicht, dennoch wusste er, wie der Strand aussah. »Ich war vor sechs Jahren einmal mit Granny hier, als Charles Dickens in der Apollonian Hall eine Lesung hielt.« David dachte gerne an die gewaltige Konzerthalle in der Snargate Street und den berühmten Schriftsteller zurück. Trotz Unwetter war es ein toller Abend gewesen. Ein Sturm hatte über Dover gewütet, dicke graue Wolken waren über dem Meer landeinwärts gezogen, hatten starken Regen mitgebracht und die Fährdampfer daran gehindert, anzulegen. Nichtsdestotrotz hatte das Mr. Dickens nicht von seiner Lesung abgehalten. Die Zuhörer hatten wie verrückt applaudiert.
    Gewohnt hatten Granny und David im Lord Warden Hotel. In ebendiesem Hotel würden auch Zahar und er den Tag verbringen, um nachts mit einer Fähre nach Calais überzusetzen. Von dort würden sie mit dem Zug weiter über Lille nach Amiens fahren. Mehr Strecke schafften sie vor dem Morgengrauen nicht.
    Als Zahar von der Lesung hörte, bemerkte David, wie sich seine Krallen in den Holzrahmen bohrten. »Die Nacht wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Als ich dein Haus leer vorfand und du und deine Großmutter zwei Tage lang verschwunden wart … Ich war außer mir vor Sorge, weil ich dachte, Dämonen hätten euch …«
    David legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wenn ich damals schon über dich Bescheid gewusst hätte, wäre ich niemals gefahren.«
    Lächelnd drehte sich Zahar um. »Ich wäre mitgekommen. Genau wie jetzt. Ich freue mich wirklich über die Reise, auch wenn sie keinen schönen Anlass hat.«
    Davids Herz verkrampfte sich. Würde er womöglich bald dem Mörder seiner Eltern begegnen? »Der Zug hält, lass uns ins Hotel gehen, bevor es hell wird.«
    Sie nahmen das Gepäck an sich und begaben sich in den Gang des Abteils, in dem die Passagiere nach draußen drängelten.

Zehn Minuten später meldeten sie sich im Foyer des Hotels an – wobei Zahar sich im Hintergrund hielt – und wurden von einem Pagen in den zweiten Stock gebracht. Ihr kleines Zimmer besaß zwei Einzelbetten, einen Tisch und eine Waschgelegenheit. Sie würden hier ohnehin nur ausruhen, bevor es weiterging. Der Raum war mit dunklem Holz vertäfelt, die Möbel und Vorhänge von cremeweißer Farbe. Alles wirkte sauber und zweckdienlich.
    David erklärte dem Jungen, dass sie gerne eine Mahlzeit auf dem Zimmer einnehmen und danach nicht gestört werden wollten. David drückte ihm ein ordentliches Trinkgeld in die Hand und sperrte die Tür hinter ihm zu.

Nachdem ihre Bäuche gefüllt waren, begann bereits der Morgen zu grauen. David streckte sich. Er war hundemüde.
    Zahar wirkte nervös und tigerte vor dem Fenster auf und ab. Er trug seine Kleidung; den Mantel hatte er abgelegt. »Ich frage mich, ob sich mein Schlaf wieder verzögert.«
    David stellte sich neben ihn und gemeinsam schauten sie hinaus aufs Meer. Nebel hing über dem Wasser. Zu ihrer linken Seite zeigte sich ein heller Streifen am Horizont, der langsam eine orange Farbe annahm. Gebannt warteten sie.
    »Ob deine Kleidung die Verwandlung verzögert?«, fragte David leise.
    »Nein, nichts kann es aufhalten, keine Kleidung und kein geschlossener Raum.« Zahar seufzte. »Es soll nur einen Ort geben, an dem wir nicht zu Stein werden.«
    Davids Herz überschlug sich.
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