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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gab ihm die Hand und sagte, er könne an diesem Abend voll und ganz auf mich zählen.

    Die Gassen waren still und dunkel, als ich abends zu der Verabredung mit Mr Gardner ging. Damals war es noch so, dass ich mich ständig verlief, kaum hatte ich mich ein Stück von der Piazza San Marco entfernt, und obwohl ich mit wirklich
viel Vorsprung losgegangen war und die kleine Brücke kannte, zu der mich Mr Gardner bestellt hatte, kam ich ein paar Minuten zu spät.
    Er stand direkt unter einer Laterne. Er trug einen zerknitterten dunklen Anzug, das Hemd bis zum dritten oder vierten Knopf offen, sodass man seine Brustbehaarung sah. Als ich mich für die Verspätung entschuldigte, sagte er:
    »Was sind ein paar Minuten? Lindy und ich sind seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet. Was sind ein paar Minuten?«
    Er war nicht verärgert, aber seine Stimmung schien mir ernst und feierlich – ganz und gar nicht romantisch. Hinter ihm schaukelte die Gondel sanft im Wasser, und ich sah, dass der Gondoliere Vittorio war, den ich nicht besonders gut leiden kann. Vordergründig tut Vittorio immer sehr kumpelhaft, aber ich weiß – wusste es schon damals -, dass er über unsereinen, über Leute, die er »Fremde aus den neuen Ländern« nennt, alle möglichen Gemeinheiten erzählt, und alles ist erstunken und erlogen. Deswegen nickte ich bloß, als er mich an dem Abend begrüßte wie einen Bruder, und wartete schweigend, während er Mr Gardner in die Gondel half. Dann reichte ich ihm meine Gitarre – ich hatte meine spanische Gitarre mitgebracht, nicht die mit dem ovalen Schallloch – und stieg ebenfalls ein.
    Vorn im Boot wechselte Mr Gardner ständig die Position, und irgendwann setzte er sich so schwerfällig nieder, dass wir fast kenterten. Aber ihm fiel das anscheinend gar nicht auf, und als wir ablegten, starrte er immer nur ins Wasser.
    Ein paar Minuten glitten wir schweigend an dunklen Häusern entlang, unter niedrigen Brücken hindurch. Irgendwann erwachte er aus seinen tiefen Gedanken und sagte:
    »Hören Sie, mein Freund. Ich weiß, wir haben für heute Abend schon ein Programm vereinbart. Aber ich hab’s mir
anders überlegt. Lindy liebt den Song ›By the Time I Get to Phoenix‹. Ich habe ihn vor vielen Jahren mal aufgenommen.«
    »Klar, Mr Gardner. Meine Mutter sagte immer, dass Ihre Version besser ist als die von Sinatra. Oder diese berühmte von Glenn Campbell.«
    Mr Gardner nickte, und eine Zeit lang konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Bevor uns Vittorio um eine Ecke steuerte, stieß er seinen Gondoliereruf aus, der um die Mauern scholl.
    »Ich habe ihn ihr oft vorgesungen«, sagte Mr Gardner. »Wissen Sie, ich glaube, sie würde ihn heute Abend gern hören. Sind Sie vertraut mit der Melodie?«
    Ich hatte inzwischen meine Gitarre ausgepackt, und ich spielte ein paar Takte des Lieds.
    »Ein bisschen höher«, sagte er. »In Es. So habe ich es auf dem Album gesungen.«
    Ich wechselte also die Tonart, und nach etwa einer Strophe setzte Mr Gardner ein, er sang sehr leise, fast gehaucht, als wüsste er den Text nur noch halb. Aber in diesem stillen Kanal trug seine Stimme weit. Sie klang sogar sehr schön. Und einen Moment lang war mir, als wäre ich wieder ein Kind und in unserer damaligen Wohnung: ich auf dem Teppich, meine Mutter auf dem Sofa, erschöpft, vielleicht auch mit gebrochenem Herzen, während in der Zimmerecke Tony Gardners Platte lief.
    Mr Gardner brach jäh ab und sagte: »Okay. Wir machen ›Phoenix‹ in Es. Dann vielleicht ›I Fall in Love too Easily‹, wie geplant. Und wir schließen mit ›One for My Baby‹. Das ist genug. Mehr wird sie nicht hören wollen.«
    Danach schien er wieder in Gedanken zu versinken, und wir glitten zum leisen Plätschern von Vittorios Ruder durch die Dunkelheit.

    »Mr Gardner«, sagte ich schließlich, »hoffentlich nehmen Sie mir die Frage nicht übel. Aber erwartet Mrs Gardner dieses Konzert? Oder soll es eine wunderbare Überraschung werden?«
    Er seufzte tief, dann sagte er: »Ich schätze, wir müssen es in die Kategorie wunderbare Überraschung einordnen.« Und er fügte hinzu: »Der Himmel weiß, wie sie reagiert. Vielleicht kommen wir gar nicht bis ›One for My Baby‹.«
    Vittorio steuerte uns um eine weitere Ecke, auf einmal ertönten Gelächter und Musik, und wir glitten an einem großen, hell erleuchteten Restaurant vorbei. Sämtliche Tische schienen besetzt, die Kellner wuselten herum, alle Gäste wirkten froh und glücklich, obwohl es um diese Jahreszeit
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