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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Finger und sagte etwas wie: »Oh, das war sicher Inimitable . Der unnachahmliche Tony Gardner.« Ich glaube, wir genossen beide dieses Spiel, aber dann sah ich Mr Gardners Blick abschweifen und drehte mich um, und genau in dem Moment trat eine Frau an unseren Tisch.
    Sie war eine dieser ungemein vornehmen amerikanischen Damen, mit tollem Haar, tollen Kleidern, toller Figur, und dass sie nicht so jung sind, merkt man erst, wenn man sie aus der Nähe sieht. Aus der Ferne hätte ich sie für ein Model aus einer dieser Nobelillustrierten gehalten. Aber als sie sich neben Mr Gardner setzte und ihre Sonnenbrille auf die Stirn schob, sah ich, dass sie mindestens fünfzig war, vielleicht älter. Mr Gardner sagte zu mir: »Das ist meine Frau Lindy.«
    Mrs Gardner warf mir ein Lächeln zu, das irgendwie gezwungen war, dann fragte sie ihren Mann: »Und wer ist das? Hast du einen Freund gefunden?«
    »Richtig, Liebling. Ich hatte ein sehr nettes Gespräch mit … Entschuldigen Sie, mein Freund, ich weiß Ihren Namen gar nicht.«
    »Jan«, sagte ich schnell. »Aber Freunde nennen mich Janeck.«

    Lindy Gardner sagte: »Sie meinen, Ihr Spitzname ist länger als Ihr echter Name? Wie geht das denn?«
    »Sei nicht unhöflich zu dem Mann, Liebling.«
    »Ich bin nicht unhöflich.«
    »Mach dich nicht über seinen Namen lustig, Liebling. Sei ein gutes Mädchen.«
    Lindy Gardner wandte sich mit einem irgendwie ratlosen Ausdruck an mich. »Wissen Sie, was er meint? Hab ich Sie beleidigt?«
    »Nein, nein«, sagte ich, »gar nicht, Mrs Gardner.«
    »Ständig sagt er mir, ich sei unhöflich zum Publikum. Aber ich bin nicht unhöflich. War ich jetzt unhöflich zu Ihnen?« Dann, an Mr Gardner gewandt: »Ich rede auf natürliche Art mit dem Publikum, Süßer. Das ist meine Art. Ich bin nie unhöflich.«
    »Okay, Liebling«, sagte Mr Gardner, »lass uns das jetzt nicht weiter ausbreiten. Wie auch immer, dieser Mann hier ist nicht Publikum.«
    »Ach nein? Was denn dann? Ein verloren geglaubter Neffe?«
    »Sei doch nett, Liebling. Dieser Mann ist ein Kollege. Ein Musiker, ein Profi. Er hat jetzt gerade für uns gespielt.« Er deutete zu unserem Baldachin hinüber.
    »Ah ja!« Lindy Gardner wandte sich wieder an mich. »Sie haben dort Musik gemacht, ja? Also das war hübsch. Sie waren am Akkordeon, stimmt’s? Wirklich hübsch!«
    »Vielen Dank. Ich bin aber der Gitarrist.«
    »Gitarrist? Das ist nicht Ihr Ernst! Noch vor einer Minute hab ich Sie beobachtet. Genau dort haben Sie gesessen, neben dem Kontrabassisten, und so wunderschön auf Ihrem Akkordeon gespielt.«
    »Verzeihung, aber am Akkordeon, das war Carlo. Der Große mit der Glatze …«

    »Sind Sie sicher? Sie nehmen mich nicht auf den Arm?«
    »Liebling, bitte. Sei nicht unhöflich zu dem Mann.«
    Er hatte nicht gerade geschrien, aber seine Stimme war auf einmal scharf und zornig, und nun herrschte ein merkwürdiges Schweigen. Mr Gardner brach es selbst nach einer Weile und sagte sanft:
    »Entschuldige, Liebling. Ich wollte dich nicht anschnauzen.«
    Er streckte die Hand aus und ergriff eine der ihren. Ich hätte eigentlich erwartet, dass sie sich losriss, aber das Gegenteil war der Fall: Sie rückte auf ihrem Stuhl näher zu ihm und legte ihre freie Hand auf das gefaltete Händepaar. So saßen sie ein paar Sekunden, Mr Gardner mit gesenktem Kopf, seine Frau mit leerem Blick über seine Schulter hinwegstarrend; sie blickte auf die Basilika jenseits der Piazza, aber ihre Augen schienen nichts wahrzunehmen. In diesem kurzen Moment war es, als hätten sie nicht nur mich an ihrem Tisch vergessen, sondern sämtliche Leute auf dem Platz. Dann sagte sie, beinahe flüsternd:
    »Schon gut, Süßer. Es war meine Schuld. Ich hab dich aufgeregt.«
    Noch eine Weile saßen sie so da, Hand in Hand. Dann seufzte sie, ließ Mr Gardner los und sah mich an. Sie hatte mich schon zuvor angesehen, aber diesmal war es anders. Diesmal spürte ich ihren Charme. Es war, als hätte sie eine Skala, die von null bis zehn reichte, und hätte in dem Moment beschlossen, ihren Charme mir gegenüber auf sechs oder sieben aufzudrehen. Ich spürte ihn wirklich stark, und wenn sie mich jetzt um einen Gefallen gebeten hätte – zum Beispiel über den Platz zu gehen und ihr Blumen zu kaufen -, hätte ich es mit Freuden getan.
    »Janeck«, sagte sie. »So heißen Sie, oder? Es tut mir leid,
Janeck. Tony hat recht. Wie komme ich dazu, so mit Ihnen zu reden?«
    »Wirklich, Mrs Gardner, machen Sie sich bitte keine Gedanken
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