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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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…«
    »Und ich bin in euer Gespräch hineingeplatzt. Bestimmt ein Musikergespräch. Aber wisst ihr was? Ich werde euch zwei jetzt in Ruhe weiterreden lassen.«
    »Du musst wirklich nicht gehen, Liebling«, sagte Mr Gardner.
    »Oh doch, Süßer. Ich sehne mich regelrecht danach, mir diesen Prada-Laden anzusehen. Ich bin nur hergekommen, um dir zu sagen, dass ich länger weg bin, als ich dachte.«
    »Okay, Liebling.« Tony Gardner richtete sich zum ersten Mal auf und atmete tief durch. »Solang du sicher bist, dass es dir Spaß macht.«
    »Oh ja, ich werde mich wunderbar amüsieren. Und euch beiden wünsche ich eine nette Unterhaltung.« Sie stand auf und berührte mich an der Schulter. »Passen Sie auf sich auf, Janeck.«
    Wir sahen ihr nach, dann fragte mich Mr Gardner das eine oder andere nach dem Leben eines Musikers in Venedig und besonders nach dem Quadri-Orchester, das in dem Moment zu spielen anfing. Er schien meinen Antworten nicht sehr aufmerksam zu folgen, und ich wollte mich schon verabschieden und gehen, aber dann sagte er plötzlich:
    »Ich hätte da einen Vorschlag, mein Freund. Lassen Sie mich sagen, was mir vorschwebt, und Sie können mir einen Korb geben, wenn Sie wollen.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Darf ich Ihnen was erzählen? Als Lindy und ich zum ersten Mal hierher nach Venedig kamen, waren wir in den Flitterwochen. Vor siebenundzwanzig Jahren. Und obwohl
wir nur glückliche Erinnerungen an die Stadt haben, waren wir nie mehr hier, jedenfalls nicht gemeinsam. Und als wir diese Reise planten, diese für uns ganz besondere Reise, sagten wir uns, wir müssen unbedingt ein paar Tage in Venedig verbringen.«
    »Ist es Ihr Hochzeitstag, Mr Gardner?«
    »Hochzeitstag?« Er blickte erschrocken drein.
    »Entschuldigung«, sagte ich. »Ich dachte nur – weil Sie sagten, es ist Ihre ganz besondere Reise.«
    Er blickte noch eine Zeit lang erschrocken drein, dann lachte er, ein lautes, dröhnendes Lachen, und auf einmal fiel mir dieses eine Lied wieder ein, das meine Mutter ständig hörte; darin gibt es mittendrin eine gesprochene Passage, wo er sagt, es sei ihm egal, dass diese Frau ihn verlassen hat, und er stößt dieses sardonische Gelächter aus. Jetzt schallte dasselbe Gelächter über den Platz. Dann sagte er:
    »Hochzeitstag? Nein, nein, es ist nicht unser Hochzeitstag. Aber was ich vorhabe, ist nicht so weit davon entfernt. Denn ich möchte was sehr Romantisches tun. Ich möchte ihr ein Ständchen bringen. Wie sich’s gehört, nach venezianischer Art. Und hier kommen Sie ins Spiel. Sie spielen auf Ihrer Gitarre, ich singe. Wir tun es von einer Gondel aus, wir lassen uns bis unters Fenster rudern, ich singe zu ihr hinauf. Wir haben ein Quartier in einem Palazzo nicht weit von hier. Das Schlafzimmerfenster geht auf den Kanal hinaus. Wenn es dunkel ist, wird das perfekt sein. Die Laternen an den Hausmauern erzeugen das passende Licht. Unten Sie und ich in einer Gondel, oben tritt sie ans Fenster. Alle ihre Lieblingslieder. Es muss nicht lang sein, abends ist es doch noch ein bisschen kühl. Nur drei oder vier Lieder, stelle ich mir vor. Ich entlohne Sie anständig. Was meinen Sie?«

    »Mr Gardner, es wäre mir eine große Ehre. Wie ich schon sagte, Sie waren eine wichtige Person für mich. Wann würden Sie das gerne machen?«
    »Warum nicht heute Abend, wenn’s nicht regnet? Gegen halb neun? Wir essen früh, und bis dahin sind wir wieder zurück. Ich denke mir irgendeinen Vorwand aus, um die Wohnung zu verlassen, und treffe mich mit Ihnen. Bis dahin habe ich eine Gondel bestellt, wir lassen uns durch den Kanal rudern, halten unter dem Fenster an. Das wird perfekt. Was meinen Sie?«
    Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass das wie ein Traum war, der Wirklichkeit wird. Außerdem hielt ich es für eine reizende Idee, dieses Paar – er in den Sechzigern, sie in den Fünfzigern -, das sich benimmt wie zwei verliebte Teenager. Tatsächlich war die Idee so reizend, dass sie mich die Szene, die ich vorhin miterlebt hatte, beinahe vergessen ließ. Aber nicht ganz. Ich meine, ich wusste schon zu diesem Zeitpunkt irgendwo tief drinnen, dass die Sache nicht so klar und einfach war, wie er sie darstellte.
    Die nächsten Minuten saßen Mr Gardner und ich noch zusammen und besprachen die Details – welche Lieder er wollte, welche Tonarten er bevorzugte, solche Dinge. Dann war es Zeit für mich, ich musste zurück unter den Baldachin und zu unserem nächsten Set, also stand ich auf,
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