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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht
Autoren: Kazuo Ishiguro
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so nah am Kanal nicht besonders warm gewesen sein dürfte. Nach der Stille und Dunkelheit, durch die wir gefahren waren, fand ich dieses Restaurant irgendwie beunruhigend. Es war, als wären wir die Bewegungslosen und sähen vom Kai aus dieses glitzernde Partyschiff vorbeifahren. Ein paar Gesichter blickten zu uns her, aber niemand schenkte uns besondere Aufmerksamkeit. Dann lag das Restaurant hinter uns, und ich sagte:
    »Das ist doch komisch. Können Sie sich vorstellen, was diese Touristen tun würden, wenn sie wüssten, dass gerade eine Gondel mit dem legendären Tony Gardner an ihnen vorbeigefahren ist?«
    Vittorio, der nicht viel Englisch versteht, kapierte immerhin, wovon ich sprach, und lachte kurz auf. Aber Mr Gardner rührte sich eine ganze Weile nicht. Ringsum war es wieder dunkel, wir fuhren in einem engen Kanal an spärlich beleuchteten Hauseingängen vorbei, und er sagte plötzlich:
    »Mein Freund, Sie kommen aus einem kommunistischen Land. Deswegen ist Ihnen nicht klar, wie das alles funktioniert.«

    »Mr Gardner«, sagte ich, »mein Land ist nicht mehr kommunistisch. Wir sind jetzt freie Menschen.«
    »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht Ihre Nation verunglimpfen. Sie sind ein tapferes Volk. Ich hoffe, Sie erlangen alle Frieden und Wohlstand. Aber was ich Ihnen sagen wollte, mein Freund. Ich meine, dass Sie aufgrund Ihrer Herkunft vieles noch nicht begreifen können. Was ganz normal ist. Genauso wie ich in Ihrem Land vieles nicht begreifen würde.«
    »Das wird wohl so sein, Mr Gardner.«
    »Diese Leute, an denen wir vorbeigefahren sind. Hätten Sie sich vor sie hingestellt und gefragt: ›Hallo, erinnert sich noch jemand an Tony Gardner?‹, dann hätten wohl manche, vielleicht sogar die meisten Ja gesagt. Wer weiß? Aber wenn wir wie jetzt eben an ihnen vorbeifahren, wäre irgendwer, selbst wenn er mich erkannt hätte, in Begeisterung ausgebrochen? Das glaube ich nicht. Die Leute würden nicht die Gabel aus der Hand legen, sie würden nicht ihre Kerzenscheinromantik unterbrechen. Warum auch? Ist doch nur irgendein Schnulzensänger aus einer längst vergangenen Zeit.«
    »Das kann ich nicht glauben, Mr Gardner. Sie sind ein Klassiker. Sie sind wie Sinatra oder Dean Martin. Manche Spitzenkünstler kommen nie aus der Mode. Anders als diese Popsternchen.«
    »Das ist sehr nett von Ihnen, mein Freund. Sie meinen es gut, ich weiß. Aber gerade heute Abend ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Späße mit mir zu machen.«
    Ich wollte schon protestieren, aber es war etwas an seinem Verhalten, das mir riet, das Thema insgesamt fallen zu lassen. So fuhren wir weiter, niemand sprach. Um ehrlich zu sein, begann ich mich zu fragen, worauf ich mich da eingelassen hatte, was diese ganze Serenadengeschichte bedeuten sollte.
Die beiden waren schließlich Amerikaner. Wahrscheinlich würde Mrs Gardner, sobald er unten zu singen anfing, mit einer Knarre ans Fenster kommen und auf uns schießen.
    Vielleicht bewegten sich Vittorios Gedanken in die gleiche Richtung, denn als wir unter einer Laterne an einer Hausmauer vorbeikamen, warf er mir einen Blick zu, der besagte: »Schräger Vogel, wie, amico ?« Aber ich reagierte nicht. Undenkbar, dass ich mich mit einem von seinem Schlag gegen Mr Gardner stellte. Vittorio behauptet, dass Ausländer wie ich die Touristen abzocken, Müll in die Kanäle kippen und überhaupt die ganze verdammte Stadt ruinieren. An manchen Tagen, wenn er mies gelaunt ist, stellt er uns als Straßenräuber hin – als Vergewaltiger sogar. Einmal fragte ich rundheraus, ob es stimmt, dass er solche Sachen herumerzählt, und er schwor, das sei alles total gelogen. Er sei doch kein Rassist, wie denn auch mit seiner jüdischen Tante, die er wie eine Mutter verehrt? Aber einmal, als ich nachmittags Pause hatte, lehnte ich in Dorsoduro an einer Brücke und vertrieb mir die Zeit. Unter mir fuhr eine Gondel vorbei. Drei Touristen saßen darin, und Vittorio stand mit seinem Ruder hinter ihnen und verbreitete genau diesen Blödsinn, sodass alle Welt es hören konnte. Also, er kann meinen Blick suchen, so viel er will, mich macht er nicht zu seinem Komplizen.
    »Lassen Sie mich Ihnen ein kleines Geheimnis verraten«, sagte Mr Gardner plötzlich. »Ein kleines Geheimnis über den Auftritt vor Publikum. Unter uns Profis. Es ist ganz einfach: Sie müssen etwas wissen – egal, was, aber irgendetwas müssen Sie über Ihr Publikum wissen. Etwas, was für Sie, in Ihrem Kopf, dieses Publikum von einem anderen
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